Die Schätze seines Lebens
Nostalgische Geschichte für Groß und Klein – Alte Fotos, ein wichtiges Wissen über sich und seine Vergangenheit
Im Regal hinter den großen Buchrücken des großen Meyer* hütete Urgroßvater seinen größten Schatz. Er war ihm so wertvoll, dass er ihn im Tresor in einer Kassette verwahrte. Glänzende Augen bekam er, wenn er von ihm sprach und seine Hände zitterten, wenn er mit feierlicher Miene den kleinen Tresor öffnete und ihm die Kassette entnahm. Er öffnete ihn nur manchmal und seine Hände zitterten auch nur in diesen Augenblicken. Sorgsam stellte er das Kästchen auf ein Samttuch, das er zuvor auf dem Tisch ausgebreitet hatte, und vorsichtig drehte er den alten Schlüssel im Schloss der noch älteren Schatzkiste.
„Hierin ruhen die wichtigsten Schätze meines Lebens“, pflegte er zu sagen, wenn er den Deckel der Kassette, die eher einem Schmuckkästchen glich, hob.
Und klar, als er sie mir beim ersten Mal zeigte, erwartete ich glitzernde und gleißende Schmuckstücke und Goldmünzen, ein paar Geldscheine auch. Aber bestimmt nicht die alten Fotos, die darin ihren Platz hatten. Fotos, nichts als Fotos. Die meisten schwarzweiß und ziemlich alt und abgegriffen.
Urgroßvater musste meinen enttäuschten Blick bemerkt haben, denn er lächelte.
„Es gibt Schätze, die sind mit Schmuck und Gold nicht zu bezahlen“, sagte er. „Eines Tages wirst du verstehen, was ich meine.“
Und dann nahm er mit behutsamen Gesten ein Foto nach dem anderen aus der Kassette, streichelte mit dem Zeigefinger zärtlich über deren Oberfläche und begann zu erzählen. Von den Menschen, die man auf den Fotos sah, den Landschaften, Häusern, Blumen, Bäumen, Erinnerungen. Und in seinen Worten verwandelte sich jedes einzelne von ihnen in einen ganz besonders kostbaren Schatz.
„Meine Schätze!“, sagte er und seine Augen leuchteten wie kleine Funkelfeuer. „Die Menschen meines Lebens, die vor mir oder mit mir gelebt haben. Die Orte, die Begegnungen, die Augenblicke. Sie alle möchte ich nie vergessen. Die Erinnerungen sind mir wertvoller als alles Geld und Gold der Welt.“
Fotos? Wie konnten Fotos für Urgroßvater so wichtig sein? Die hatte doch jeder in Alben oder auf Festplatten.
Und weil ich ihn immer noch ungläubig ansah, erzählte er mir von der Zeit, in der er ein Junge gewesen war und in der der Krieg auch in seinem Leben gewütet hatte. Eine Nacht des Feuers hatte genügt, um alle Erinnerungen an früher zu verwüsten. Weh getan hatte es ihm, so weh, dass er sein Leben lang seine Erinnerungen wieder neu suchte. Bei Verwandten hatte er gesucht, bei Bekannten, sogar in Antiquariaten und auf Flohmärkten, später im Internet. Immer wieder mal war er mit einzelnen Bildern fündig geworden und sein Schatz war immer kostbarer geworden.
“Weißt du”, hatte er gesagt und sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln gewischt. “Es ist so wichtig, zu wissen, woher man kommt. Wenn du deine Vergangenheit, deine Ahnen und Wurzeln, kennst, stehst du stabiler im Leben und kannst mit all dem, was dich in der Zukunft erwartet, besser umgehen.”
Das klang sehr wichtig und bedeutsam. Ich hatte es begriffen und mit seinem Foto-Schatz ist Urgroßvater für mich unvergessen geblieben. Auch heute noch, lange nach seinem Tod, gibt es fast täglich Momente, in denen ich an ihn denke und für mein Leben mit dem Fotoapparat meine Schätze nun sammle. Für meine Schatzkassette. Die steht in einem Tresor hinter dem Bücherregal neben Urgroßvaters Schatzkassette und die beiden passen gut zusammen. Vielleicht unterhalten sie sich manchmal miteinander. Weiß man es?
Ach ja, Münzen und Schmuckstücke besaß Urgroßvater auch. Sie lagen achtlos herum irgendwo auf Regalen und Schränken, sogar auf Büchern. Sie waren nicht wichtig. Sie sind es auch nicht.
© Elke Bräunling
*Der große Meyer ist ein mehrbändiges Lexikon – Meyers Konversations-Lexikon
Wahre Schätze, Bildquelle © congerdesign/pixabay