Omas kleine Abendwelt
Fröhliche Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Kleines musikalisches Geheimnis an den Abenden
Vor einiger Zeit hat Oma die Musik entdeckt. Die Musik und das Hörbuch. Tagsüber nicht. Nur abends und zwar dann, wenn Opa es sich mit einer Zeitschrift oder seinem Skizzenblock für den Abend bequem macht und den Fernseher einschaltet.
„Ich glaube, ich habe schon alles gesehen“, hat Oma einmal gesagt. „All die Filme und Quizshows zeigen mir nichts Neues. Selbst die vielen Talkshows und Diskussionen erzählen mir die Welt nicht besser. Im Gegenteil. Sie verwirren mich. Nein, nein, es tut mir gut, am Abend abzuschalten und mich bei Musik oder einem Hörbuch zu entspannen.“
Und weil Opa am Abend nicht immer Lust hat, Musik zu hören oder sich eine Geschichte in einem Hörbuch erzählen zu lassen, setzt sich Oma nach den Zwanziguhrnachrichten zwei riesig große Kopfhörer auf und wählt sich ihr Programm selbst.
Witzig sieht sie aus, die kleine Oma mit den großen Kopfhörern, wie sie so dasitzt und lauscht. Witzig und irgendwie auch sehr zufrieden und entspannt. Oft liest sie zu leiser Musik die Bücher, deren Geschichten noch nicht erzählt sind, oder sie strickt Schals oder riesig lange Pullover und Jacken, weil man beim Stricken nicht auf Farben oder Musters aufpassen muss. Meistens tut sie beides. Stricken und Lesen. Und lauschen. Und dabei trinkt sie ein Glas Wein, eine Schokolade, einen Kaffee oder einen Latte Macchiato und knabbert Kekse oder Apfelschnitze oder beides.
„Süß siehst du aus in deiner kleinen Abendwelt“, sagt Opa eines Tages. „Man könnte fast ein bisschen neidisch werden.“
Oma nickt und lächelt. „Ich liebe sie auch sehr. Sie ist so … ruhig.“
„Ruhig?“ Opa sieht Oma verwirrt an. „Deine Musik ist ruhig?“
„Oh ja. Und wie sehr!“, antwortet Oma. „Totenruhig.“
„Also das möchte ich doch gerne einmal hören.“ Opa lacht und greift nach Omas Kopfhörern. „Darf ich?“
Jetzt lacht auch Oma. „Aber natürlich. Immer gerne.“
Sie nimmt die Kopfhörer ab und reicht sie Opa. Dessen Miene ist gespannt, als er sie aufsetzt. Er zieht sie über die Ohren, schiebt sie zurecht, lauscht, schiebt wieder, ruckelt, klopft und lauscht wieder.
„Ich höre nichts“, sagt er dann. „Überhaupt nichts.“ Er lacht. „Du hast recht: Das ist wirklich eine totenruhige Musik, die du dir da anhörst.“
Oma nickt. „Lauter mag ich sie auch gar nicht haben. Sie rettet mich vor dem überlauten Fernseher.“ Sie macht eine Pause, grinst. „Du solltest einmal zum Ohrenarzt gehen. Vielleicht“, sie grinst noch mehr und deutet auf die Kopfhörer, „ja, vielleicht muss ich ja dann dieses Ohrenschützer-Ding nicht mehr jeden Abend aufsetzen.“
Jetzt lacht Opa nicht mehr. Er brummt so etwas wie „Warum sagst du das nicht gleich?“ und „Ich höre bestens“ und schaltet den Ton am Fernsehgerät leiser. So leise, dass es Oma wieder Spaß machen könnte, sich auch einen Film anzusehen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
© Elke Bräunling
Gemütlichkeit am Abend, Bildquelle © cocoparisienne/pixabay
Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause
Ich glaube, liebe Elke, du hast uns beobachtet am Abend. Ich sitze ebenfalls mit dem Kopfhörer da und stricke und manchmal ist auch gar keine Musik im Hörer, das schützt mich vor dem zu lauten Fernseher. Ich kann die Oma in deiner Geschichte so gut verstehen!
Liebe Grüße
Regina
Oh, ihr auch? Ohne meine Kopfhörer würde ich sterben … Ich mag laute Fernseher nicht, auch nicht, wenn mich die Sendung interessiert.
Die Oma spricht da ganz aus meiner Seele. Oder habe ich vielleicht von mir gebloggt? 😉