Einmal wieder barfuß über eine Frühlingswiese gehen

Vorlesegeschichte mit einfacher Struktur für an Demenz erkrankte Menschen: Barfuß auf der Frühlingswiese

Endlich ist der Frühling da. Die Sonne scheint herrlich warm.
Alfons setzt sich auf seine Lieblingsbank unter der Birke. Sie steht bei der großen Wiese mit den Gänseblümchen.
Er ist froh, dass die Bank frei ist. An diesem ersten warmen Frühlingstag will er alleine sein.
Er möchte an Ida denken und auch ein bisschen träumen.
Hier, genau hier, hat er sie vor knapp sechzig Jahren kennengelernt. Er hat sich gleich in sie verliebt, und sie ist seine große Liebe geblieben. Doch vor zwei Jahren ist sie von ihm gegangen.
Viel zu früh, denkt Alfons traurig. Er schluckt, um nicht zu weinen.
Schnell schließt er die Augen und streckt sein Gesicht der Sonne entgegen.
Was für ein Genuss! Wie kräftig die Sonnenstrahlen schon waren!
„Ach, Ida!“, murmelt er. „Komm ein bisschen zu mir! Ich möchte von dir träumen!“
Der Traum von Ida aber will heute nicht kommen. Da ist nur das aufgeregte Singen der Vögel.
Plötzlich hört er ein Geräusch. Ein Rascheln. Dann eine Stimme. Jemand singt ein Lied.
Alfons öffnet die Augen.
Nicht weit entfernt geht eine Frau langsam über die Wiese. Nein, sie tanzt fast.
Ihre Hosenbeine sind hochgekrempelt. Sie läuft barfuß durch das kühle Gras.
Und sie singt dabei: „Mich wundert, dass ich so fröhlich bin …“
Alfons hält den Atem an. Ida?
Nein. Sie ist nicht Ida. Aber sie sieht ihr ein bisschen ähnlich.
Erst will Alfons sich ärgern. Er möchte doch alleine sein.
Dann aber muss er schmunzeln. Diese Frau ist fröhlich. So wie Ida es immer war.
Sie bleibt stehen und sieht ihn an.
„Kommen Sie!“ ruft sie. „Das Gras ist herrlich!“
Alfons lacht. Dann schüttelt er den Kopf. „Dazu bin ich zu alt“, antwortet er.
Die Fremde lässt das aber nicht gelten. „Ach was!“, meint sie. „Das ist kein Hindernis. Man ist nie zu alt.“
Ob sie recht hat? Alfons zögert. Dann beugt er sich langsam über seine Füße und zieht die Schuhe aus. Dann die Socken.
Langsam stellt er seine Füße ins Gras.
Es ist weich. Kühl. Und es fühlt sich gut an. Vorsichtig bewegt er die Zehen.
Dann wagt er einen Schritt. Noch einen. Das Gras kitzelt unter seinen Füßen.
Ein wenig unsicher lächelt er der Fremden zu.
Die sieht ihn an und streckt ihm die Hand entgegen.
„Sie sind mutig! Wie schön!“, freut sie sich „Kommen Sie!“
Alfons überlegt. Dann fasst er sich ein Herz und greift nach ihrer Hand.
Gemeinsam gehen sie über die Wiese. Ein bisschen tanzen sie auch.
Alfons spürt das Gras, die kleinen weißen Gänseblümchen, die Erde, den Frühling.
Sein Herz pocht schneller. Es ist ein angenehmes Pochen. Er lacht.
Es ist wie früher. Als wäre Ida noch da. Was ist das doch für ein schöner Tag!
Er hebt den Kopf zum Himmel und flüstert:
„Ida! Vielleicht kannst du mich sehen? Ich glaube, du hättest das auch gemocht.“

© Elke Bräunling


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