Maikäferzeiten und Schuhkartons

Nostalgische Maikäfergeschichte für Groß und Klein – Die Großtante erinnert sich an nächtliche Maikäfersammelaktionen in ihrer Kindheit

Viel hatte Benjamin von Maikäfern gehört oder gelesen. Er kannte sie auch von Bildern und Fotos. In echt aber hatte er noch nie einen dieser drollig aussehenden Käfer entdeckt. Schade. Aber vielleicht würde es ja in diesem Jahr klappen?
„Hast du schon einen Maikäfer gesehen?“, fragt er Großtante Elisabeth, die auf der anderen Seite des Gartens im Nachbarhaus wohnte.
„Noch nicht.“ Die Großtante schüttelte den Kopf. „Aber ich verspreche dir, nach ihnen Ausschau zu halten. Abends, wenn die Dämmerung der Dunkelheit noch nicht ganz Platz gemacht hat, kann man sie bei am besten aufspüren.“
„Im Dunkeln?“, staunte Benjamin. „Da siehst du ja nichts, Tante Elisabeth.“
„Ha! Maikäfer hört man längst, bevor man eine Chance hat, sie zu sehen. Laut summen sie durch die Dämmerung und wenn sie nicht gerade auf den Bäumen sitzen und frische Blätter in sich hinein futtern, sind sie auf der Suche nach dem Licht. Gerne umfliegen sie deshalb Straßenlaternen und manchmal stoßen sie angelockt vom Licht auch gegen die Fensterscheiben.“ Die Großtante lachte.
„Als wir Kinder waren, haben wir sehnsüchtig darauf gewartet, dass einer dieser Brummsummer auf diese Weise an unser Fenster ‚klopfte‘. Nichts konnte uns dann mehr halten. Rein in die Kleider und die vorbereiteten Schuhkartons geschnappt und nichts wie raus in den Garten und über die Straße in den Kirchgarten. Dort bei den Kastanienbäumen wurden wir immer fündig. Und …“
„Wozu brauchtet ihr Schuhkartons?“, unterbrach Benjamin die Tante.
„Das waren unsere Maikäferkäfige. Mit Mutters Stricknadeln hatten wir Löcher in die Seiten und den Deckel der Pappe gebohrt, damit unsere Käfer nicht erstickten. Und damit sie es weich und zugleich auch etwas zu futtern hatten, legten wir frische Blätter hinein.“
„Habt ihr viele Käfer gefunden?“, staunte Benjamin.
„Nun ja, mehr als zwei oder drei, machmal aber auch vier oder fünf am Abend fanden wir nicht. Wir durften auch nicht lange draußen bleiben. Es war schließlich Schlafenszeit und an manchem Abend drückten unsere Eltern schon beide Augen zu, weil wir so lange unterwegs waren.“
„Und was habt ihr mit den Käfern dann gemacht?“, fragte Benjamin.
„Wir haben die Kartons unter unsere Betten gestellt und in der Nacht immer wieder gelauscht, ob wir ein Summen oder Brummen oder ein Schmatzen hörten. Ja, und aufregende Träume haben wir geträumt. Am nächsten Tag nahmen wir unsere Schuhkartons mit in die Schule und zeigten sie den anderen unsere Maikäfer.“
Die Großtante schloss für einen Moment die Augen und lächelte. Bestimmt dachte sie an die Zeit, in der sie ein Schulmädchen war.
„Und dann“, fuhr sie fort, „haben wir ausgezählt. Wer die meisten Käfer gefunden hatte, war der Sieger. Ja, und Käferwettrennen haben wir gemacht. Mit etwas Glück hatten einige der Käfer Lust, sich zu bewegen. Und mit etwas Pech flogen uns viele auf diese Weise einfach davon.“
„Und dann?“
„Nichts. Es war gut so.“
„Und was habt ihr mit den Käfern dann getan?“
Benjamin fand die Sache mit den Maikäfern einfach toll und er würde sich nichts mehr wünschen als auch mit einem Schuhkarton, in dem Maikäfer auf Blättern saßen und durch Pappkartonlöcher atmeten, in die Schule zu gehen.
„Nichts“, antwortete Großtante Elisabeth wieder. „Wir haben sie frei gelassen. Wie schön war es, wenn sich unsere Käfer nach einigem Zögern mit einem brummigen Summen und pumpenden Flügeln in die Luft hinauf schraubten ab zu den nächsten Bäumen. Am Abend dann haben wir auf neue Käfer gelauert. Es war ein Spiel.“
„Toll!“, sagte Benjamin.
„Manchmal aber, vor allem in Maikäferjahren, denen es reichlich Maikäfer gab, brachten wir sie zum Hausmeister unserer Schule. Der sammelte sie in alten Milchkannen oder Kübeln und brachte diese dann zum Hühnerhof. Maikäfer nämlich sind eine Delikatesse für Hühner.“
Das fand Benjamin nun gar nicht mehr toll. Welcher Käfer war schon gerne Hühnerfutter?
„Die armen Maikäfer!“, sagte er.
„Arme Maikäfer? Nein, ich würde sagen: Arme Bäume.“ Großtante Elisabeth deutete zu den Apfelbäumen und der alten Kastanie im Garten hinüber. „In so manchem Maikäferjahr waren die Bäume kahl gefressen. Maikäfer – und ihre Larven, die Engerlinge – konnten ganze Gärten, Wälder und Felder mit ihrem immerwährenden Hunger kahl fressen und zerstören. Einmal war es so schlimm, dass die Bauern um ihre Ernten fürchteten. Das war in dem Jahr der Maikäferplage, in dem wir sogar Maikäferferien hatten.“
„Maikäferferien?“ Fragend sah Benjamin die Tante an.
Die nickte. „Statt in die Schule gingen wir mit Kannen, Kübeln und Schachteln in die Felder und sammelten die Maikäfer ein. Die kamen dann als Schweine- und Hühnerfutter zu den Bauern. So halfen wir, die Ernte zu retten. Puh!“ Sie schüttelte sich. „Das war nicht mehr lustig. Und nach diesem Maikäferjahr hatte keiner mehr Lust, Maikäfer zum Spaß zu fangen.“
Benjamin nickte. Das konnte er gut verstehen.
„Ein Glück eigentlich, dass es solche Maikäferplagen nicht mehr gibt“, sagte er, und mit einem Seufzer fügte er hinzu: „Aber einen oder zwei oder drei, ja, die würde ich schon gerne in einen Schuhkarton setzen und dann lange angucken.“
Großtante Elisabeth lächelte.
„Dann lass uns abends mit den Hunden einen Spaziergang durch die Siedlung und den Park machen. Vielleicht werden wir fündig.“
„Au ja!“, rief Benjamin. „Schon heute Abend?“
Und als die Tante nickte, verabschiedete er sich schnell und rannte nach Hause. Er hatte noch viel zu tun. Einen Schuhkarton musste er organisieren und eine Stricknadel. Für die Löcher.
Oh, aufregend war das!

© Elke Bräunling

Eine Geschichte zu einem Maikäferlied findest du hier: Maikäfer flieg

Maikäferzeit, Bildquelle © Josefka/pixabay

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