Die Stimmen der Natur

Sommergeschichte für Senioren – Mit sich und der Natur im Reinen zu sein

„Ich muss nicht verreisen, um die Welt kennen zu lernen? Nicht mehr.“
Bekräftigend nickte Sofie und sie lächelte dabei. Nein, es war ein Strahlen, das ihr Gesicht wieder hübsch machte und jung und glücklich. Ein Gesicht, das zeigte, wie sehr die alte Dame mit sich im Reinen war.
Sie hatte viel erlebt in der langen Zeit ihres Lebens. Schönes, Beglückendes, auch Trauriges und Angst machendes. Letztlich sind es aber die schönen Erinnerungen, die sie nun durch ihr Alter tragen. Und die haben, wenn sie es nun richtig bedachte, wenig mit den Reisen, die sie in ihrem Leben  gemacht hatte, zu tun. Eigentlich gar nichts. Der Himmel war überall gleich. Der Aufgang der Sonne am Morgen, die flirrende Helle in den Mittagsstunden und das sanfte Hinübergleiten in die Dämmerung am Abend. Und die Freude, die sie bei diesem Anblick empfand, war es auch, egal, wo sie sich befand. Und irgendwie tröstete sie dies.
Sie lächelte und strich über das Moospolster, auf dem sie sich zu einer Verschnaufpause niedergelassen hatte. Neben der Bank. Um die Erde besser zu spüren. Die verborgenen Energien.
Ihr Mann Paul, der auf der Bank saß, lächelte auch.
„Ich würde mich so gerne zu dir setzen, Sophie, aber die leidige Arthrose hindert mich daran“, sagte er und schaute sie bedauernd an.
Leichtfüßig, wie ein junges Mädchen erhob sie sich nun und setzte sich neben ihn.
„Weißt du, ich muss die Erde spüren, dann geht es mir gut. Vielleicht solltest du mal barfuß gehen, um etwas mehr Verbundenheit zu bekommen, mein Lieber!“ Sie drückte seine Hand.
„Du meinst, ich soll mich erden?“ Paul blickte auf seine Füße. „Das soll angeblich mit der Erde vereinen, habe ich neulich gelesen. Aber ob das stimmt?“ Er machte eine Pause. Sein Blick blieb skeptisch. „Man soll ja nicht alles glauben, was so gesagt wird.“
„Probiere es aus! Es tut gut. Schon zehn Minuten am Tag barfuß laufen, soll wahre Wunder bewirken, heißt es. Und ich glaube, es stimmt. Dieser Einklang mit der Natur fühlt sich großartig an, heilend.“ Sofie hielt inne, lauschte. „Psst! Hörst du es auch?“
Paul lauschte ebenfalls, hörte aber nichts. Er mochte nur nicht zugeben, dass er nichts vernahm. Gar nichts. Es war doch zu peinlich. Sophie könnte ja denken, dass er schwerhörig sei.
„Schön, oder?“, sagte er deshalb vorsichtig und hoffte, dass er mit dieser Aussage nicht daneben gegriffen hatte.
Sie nickte. „Die Stimmen der Natur sind wunderbar. Ich könnte stundenlang hier sitzen und lauschen. Dazu bedarf es keiner Reisen mehr.“ Sie hakte sich bei ihm ein. „Und ganz besonders freue ich mich, dass du dies nun auch erkennst. So viele Jahre habe ich es mir gewünscht, doch deine Sinne waren immer nach Außen gerichtet.“
„Du hast recht, meine Liebe.“ Er nickte und dachte an die Börsenkurse, die er sich heute noch nicht angesehen hatte. Die Stimmen der Zahlen, die nämlich konnte er auch jetzt hier mitten im Wald hören. Sie waren immer da, aber das würde er seiner lieben Frau nicht sagen. Es klang so gar nicht romantisch, aber vielleicht würde er es noch lernen, das mit der Natur und so…?

© Elke Bräunling

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