Die Leichtigkeit des Lebens

Frühlingsgeschichte von der ungezwungenen Lebensfreude

„Froh zu sein, bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein König.“
Laut hallte das kleine Lied von den Gärten der Siedlung herüber. Laut und auch fröhlich irgendwie. Manchmal mehrstimmig sogar.
Was war los da draußen? Wer störte die Mittagsruhe?
Hermine Silberthal erhob sich von ihrer Chaiselongue, auf der sie ihre kleine Ruhezeit am Nachmittag verbrachte.
„Kann man hier nicht Ruhe ein Schläfchen halten?“, schimpfte sie und trat ans Fenster, um nach der Quelle des Lärms Ausschau zu halten.
Als Lärm konnte man den Gesang eigentlich nicht bezeichnen. Wen störte schon ein Gutelaunelied? Man musste schon sehr überlastet und müde sein, wenn man daran Anstoß nehmen wollte. Hermine war sehr überlastet und müde und sie wollte Anstoß nehmen. Man durfte sich schließlich im Leben nicht alles gefallen lassen. Und die Mittagsruhe sollte eingehalten werden.
„Wer sich nicht wehrt, zieht den Weg des Kürzeren“, murmelte sie und öffnete das Fenster. Woher kam der Gesang? Und wer waren die Unruhestifter dort unten?
Hinter Gardinen verborgen blickte Hermine über die Gärten. Dort drüben stand Oma Erdmann in ihren rot-weiß-gepunkteten Gartenstiefeln mitten auf der nassen Wiese und sang. Sie schien sich sehr dabei sehr zu amüsieren. Und sie war mit dem Singen nicht alleine. Vom Garten des neuen Nachbars her tönte eine vollmundige Tenorstimme, die Oma Erdmanns Gesang in der zweiten Stimme begleitete.
Schön klang das, eigentlich. Es war, als hätten sie viele Stunden das Singen geübt. In den Pausen, wenn die Luft zum Atmen fehlte, lachten sie.
Hermine schüttelte den Kopf. Ihrer Empörung Luft zu machen, das schaffte sie auf einmal nicht mehr. Still stand sie hinter ihrer schützenden Gardine und lauschte.
“Wer singt heutzutage Lieder am hellichten Tag?”, murrte sie.
Sie konnte es nicht verstehen. Schließlich durfte man keine Schwäche zeigen. Nur Oma Erdmann konnte es sich leisten, über alle Regeln hinweg zu leben. Sie war auch schon alt und hatte nichts mehr zu verlieren. Außerdem war es ihr schon immer egal gewesen, was die anderen Leute über sie dachten. Ganz besonders die Nachbarn.
„Sie können sich darüber gerne die Mäuler zerreißen, wenn es ihnen Spaß macht“, pflegte sie manchmal zu sagen. „Morgen werden sie eine neue Sau durchs Dorf jagen und sich über eine andere Sache erregen.“
Hermine war nachdenklich geworden. Ihr Ärger über diese Störung hatte einer ratlosen Traurigkeit Platz gemacht. Sie beneidete die alte Frau dort unten.
„Sie weiß es zu leben, das richtige Leben“, murmelte sie nun. „Eine Frau, der es gelingt, Unwichtiges nicht wichtig zu nehmen.“
Sie lachte auf. „Die Leichtigkeit des Lebens. Das ist sie. Und ich will auch ein bisschen davon erleben. Es ist noch nicht zu spät.“
Sie öffnete den Terminer in ihrem Laptop und begann, nicht ganz so wichtige Termine zu streichen. Dabei summte sie ohne viel nachzudenken eine Melodie: „Froh zu sein, bedarf es wenig und wer froh ist, ist ein König.“
Und so fühlte sie sich in diesem Augenblick auch. Froh.

© Elke Bräunling

Hier findest du den ersten Teil dieser Geschichte über Oma Erdmann und ihr Singen: Froh zu sein bedarf es wenig

Bildquelle © InspiredImages/pixabay

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