Die Suche nach der hellen Sommernacht

Sommergeschichte für Groß und Klein – Der Traum vom Mittsommer und einer Fahrradreise

„In manchen Ländern“, erzählte der Großvater, „geht die Junisonne nie ganz unter.“
Der Junge staunte. „Und dann bleibt es die ganze Nacht hell?“, fragte er.
Der Großvater nickte. „Abendrot und Morgenrot treffen sich zur Blauen Stunde. Sie umarmen einander wie Liebende so zärtlich und doch fest, dass für das Dunkel der Nacht kein Platz bleibt. Selbst das Licht der grauen Dämmerung vermag nur für ein kurzes Weilchen über das Himmelsrot zu streichen, um gleich darauf dem neuen Tag den Platz zu überlassen. Und …“
Noch vieles erklärte der Großvater, doch der Junge hörte nicht mehr zu. Die Liebenden Abendrot und Morgenrot hatte er vor Augen. Ob man am Himmel die Arme sehen konnte, mit denen die beiden einander in den Nächten, die der Dunkelheit keinen Platz ließen, festhielten? Ob sie sich küssten wie ein Liebespaar? Wie Mama und Papa?
Lange dachte der Junge darüber nach. Diesen Himmelskuss wollte er sehen. Unbedingt. Gleich.
„Wo sind diese Länder mit den hellen Sommernächten?“, fragte er den Großvater. „Muss man weit fahren, um sie zu besuchen?“
„Sie liegen im Norden und nicht einmal allzu sehr weit von uns entfernt“, antwortete der Großvater und deutete nordwärts. „Einige Länder der Mittsommernächte habe ich selbst besucht. Mit dem Zug, ein anderes Mal mit dem Auto und dem Campingwagen, einmal mit dem Schiff und einmal …“ Der Großvater lächelte und um seine Augenwinkel tanzten kleine Freudenfältchen, „ja, einmal sind wir mit dem Fahrrad nordwärts geradelt. Ha! Das war ein Abenteuer!“
„Mit dem Fahrrad?“ Der kleine Junge nickte. Er war zufrieden mit dieser Antwort. Was man mit dem Fahrrad erreichte, konnte nicht allzu weit sein. Und morgen wäre ein guter Tag.
Vor Aufregung konnte der Junge in jener milden Juninacht nicht schlafen. Er dachte an helle Nächte und an die Umarmung von Abendrot und Morgenrot. Morgen würde auch er sie sehen. Nach der Fahrt, die ja nicht weit sein konnte.
Als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont durchbrachen, schlich er sich mit einer Packung Kekse und einer Tüte Milch als Proviant aus dem Haus. Leise holte er sein neues Fahrrad, das seit einigen Monaten keine Stützräder mehr benötigte, und radelte los. Dorthin, wo der Großvater ihm den Norden angezeigt hatte.
Er fuhr unendlich viele Stunden über unendlich weite Wege.
Ein Glück, dass auch der Großvater heute auf dem ‚Weg nach Norden‘ war. Den traf der kleine Junge nämlich irgendwo zwischen Ländern und Meeren, es kann aber auch am Dorfende gewesen sein, so genau konnte er es später nicht mehr sagen.
„Willst du nicht erst noch frühstücken?“, fragte der Großvater.
Der Junge nickte. „Der Norden ist ganz schön stressig und Hunger habe ich auch“, sagte er und stieg ins Auto. „Aber nachher fahre ich gleich weiter.“
Und das tat er dann auch. Vierunddreißig Jahre später. Mit einem größeren Fahrrad, längeren Beinen und einem sättigenden Frühstück im Magen. Er war wieder bereit für das große Abenteuer … und für den Sommer der hellen Nächte und der rot glühenden Himmelsliebe.

© Elke Bräunling

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Glühwürmchennächte – Gedicht
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Sommerabend, Bildquelle © rauschenberger/pixabay

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