Der leise Glockenzauber

Kleine romantische Sommergeschichte von ganz besonderen Tagen in den Bergen

Hoch oben in den Bergen, wo der Wind mit den Wiesen flüstert und das Licht sanft über die Gipfel streicht, steht eine kleine Kapelle. Die Glocke in dem kleinen Glockentürmchen klingt zart und so fein, dass sie nicht alle Ohren erreicht. Man könnte meinen, sie wolle die Ruhe und den Frieden der Berge mit ihrem Klang nicht stören.
Seit vielen Jahren kommen Anna und Johann jeden Sommer hierher zu Besuch. Viele Stunden sitzen sie auf einer der alten Holzbänke in den Wiesen, lauschen dem Summen der Bienen, dem Murmeln des Baches, den Rufen der Adlerjungen hoch oben im Adlerhorst – und manchmal, wenn es ringsum still genug ist, hören sie auch den Klang der Glocke. So auch heute.
„Sie ruft die Engel zum Gebet“, glaubt Anna.
„Und sie spricht mit den Blumen.“ Johann deutet auf die Glockenblumen, die neben Zittergras, Akeleien, Vergissmeinnicht, Arnika, Margeriten, Thymian und Alpenrosen die Wiesen in dieser Jahreszeit bunt bemalen. Sie neigen sich im Wind und scheinen zu schwingen, als würden sie der Kapellenglocke antworten.
Die Sonne steht schon tiefer und taucht die Felsen in einen goldenen Glanz.
Da ertönt ein kaum hörbarer Klang ganz fein, wie aus einer anderen Welt.
„Die Glocke?“, fragt Anna.
Johann nickt. Aber es ist nicht nur die Glocke der Kapelle. Es ist ein Klingen überall ringsum. Die Glockenblumen beben, als würden sie hell und zart im Hauch des Windes läuten. Es ist eine ganz besondere Wiesenmusik. Ein sanfter Lichtschein legt sich über die Wiese. Er tanzt zwischen den Blumen und legt einen goldenen Schimmer über das Gras. Die Luft scheint zu vibrieren. Das Summen der Stille.
„Hörst du es?“ Johann greift nach Annas Hand.
Anna drückt Johanns Hand und hält die Luft an.
Was für ein wundervoller Zauber!
Nach einem kurzen Moment zieht sich das Licht wieder zurück und die Glöckchenmusik verklingt. Die Stille kehrt zurück. Sanft neigen sich die Glockenblumen im Wind.
Anna und Johann atmen tief durch und lauschen der Stille.
„Ob das ein kleines Wunder gewesen ist?“
Johann lächelt. „Ja. Und wir durften es hören.“
„Das werden wir nie vergessen“, flüstert Anna. „Und das ist auch gut so.“
„Ja!“, sagt Johann. „Das ist gut so.“

© Elke Bräunling

 

Bergkapelle, Bildquelle © WolfgangBantz/pixabay