Die geschenkte Erinnerung

Die geschenkte Erinnerung

Geschichte vom Genuss – mit Kurzfassung in einfacher Sprache

Text + Bild Illustration - Oma genießt ein Stück Wurst vor der Metzgerei, Mama und Kind blicken erschrockenDas Wurststück an der Metzgertheke, die kleinen Freuden und viele Erinnerungen

„Sie schmeckt Erinnerung … weil sie mich an meine Freude als Kind erinnert hat.“

Eine alte Frau steht vor der Metzgerei, ein Stück Wurst in der Hand. Für sie ist es mehr als ein Snack – es ist eine Reise in ihre Kindheit, ein Geschenk aus längst vergangener Zeit. Diese stille Geschichte zeigt, wie kleine Dinge große Gefühle wecken können. Für alle, die gern an früher denken – und die das Leben schmecken wollen.
Eine Geschichte  von Genuss, früheren Zeiten und kleinen Glücksmomenten.
Für Senioren und Junggebliebene.
Mit einer kürzeren Fassung in einfacher Sprache (s.u.)

 

 

Die geschenkte Erinnerung

Mitten auf dem Bürgersteig stand sie und kaute. Ihre Augen funkelten. Es war, als lachten sie. Man sah es an den fröhlichen Fältchen, die ihre Augen wie ein Sternenkranz ummalten. Ein Sternenkranz, der Verzückung ausstrahlte.
„Köstlich. Wie wunderfein köstlich!“, murmelte sie und biss noch einmal in die Leckerei, die sie in der Hand hielt. Sie kaute, schloss die Augen, stöhnte voller Genussfreude auf.
Passanten umkreisten die alte Dame. Einige lächelten amüsiert, einige schimpften, andere schüttelten die Köpfe, wieder andere drängelten sich an ihr vorbei.
Unverschämtheit! Am helllichten Tage mitten auf dem Trottoir stehen und essen und andere Leute, die es eilig haben, behindern. Nein, das ging gar nicht. Wie egoistisch aber auch. Wie unverschämt.
„Mutter! Du stehst im Weg. Komm, wir müssen weiter!“
Eine Frau mit einem kleinen Mädchen hastete auf die alte Dame zu.
„Merkst du nicht, dass du die Leute behinderst?“, fuhr sie sie an. „Du kannst doch nicht mitten auf der Straße stehen und essen.“
„Ich esse nicht, ich genieße“, entgegnete die alte Dame. „Und zum Genießen gehört ein Innehalten.“ Und etwas leiser fügte sie hinzu. „Ich habe schon lange nicht mehr etwas so Leckeres gegessen.“
Mit stummer Würde biss sie ein Stück von der Speise, die sie hinter der Hand verborgen hielt, ab.
„Was isst du da eigentlich?“ Misstrauisch beäugte die Frau ihre Mutter.
„Die Oma isst Wurst“, verriet das kleine Mädchen. „Wir haben sie beim Metzger geschenkt bekommen.“
„Wurst? Seit wann isst du Wurst, Mutter?“ Ein entsetzter Aufschrei fast.
Die alte Dame schluckte den Rest der Wurst hinunter und lächelte ihre Tochter an. „Die Verkäuferin hat sie mir geschenkt. Beim Einkauf eben. Hmm!“
Sie schielte verzückt zu der Metzgerei hinüber.
„Weißt du, früher, als ich ein kleines Mädchen war, habe ich beim Einkaufen auch immer ein Stück Wurst geschenkt bekommen. Ein Stück Fleischwurst, und die hat göttlich geschmeckt. Besser als jedes Stück Wurst auf dem Teller.“
„Besser? Warum das? Es ist doch die gleiche Wurst?“
„Sie schmeckt Erinnerung.“ Die alte Dame strahlte. „Weil sie ein Geschenk ist … und weil sie mich an meine Freude, die ich als Kind bei einem kleinen Stück Wurst empfand, erinnert hat und mich für einen Augenblick die Zeit vergessen ließ. Und das ist gut so.“
Die Frau schien ihre alte Mutter nicht zu verstehen.
„Gut“, sagte sie dann. „Lass uns einen Ring Fleischwurst kaufen. Wenn sie dir so gut schmeckt und …“
Die alte Dame schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht“, sagte sie. „Kleine Glücksmomente kann man nicht kaufen. Sie … sie sind einfach da. Unerwartet. Und regen die Erinnerung an. Auch diese Wurst war nur eine Erinnerung. Eine schöne.“
Sie sah ihre Tochter an, als ob sie um Verständnis bitten wollte. Das strahlende Funkeln der kleinen großen Freude hatte längst ihre Augen verlassen.

© Elke Bräunling

Illustration - Oma genießt ein Stück Wurst vor der Metzgerei, Mama und Kind blicken erschrocken

 

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Kurzfassung in einfacher Sprache

Ein feines Stück Erinnerung
Erinnerungsgeschichte in einfacher Sprache für Senioren

Es ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint.
Oma steht auf dem Gehweg vor der Metzgerei.
In der Hand hält sie ein Stück Wurst.
Sie beißt langsam hinein und schließt die Augen.
„Hmm … wie lecker!“, sagt sie.
Ihr Gesicht lächelt. Ihre Augen strahlen.
Sie genießt.
Ein paar Leute gehen an ihr vorbei.
Manche schauen sie an.
Ein Mann schüttelt den Kopf.
Eine Frau sagt leise: „Mitten auf dem Weg!“
Aber Oma hört das nicht.
Plötzlich kommt ihre Tochter. Ein kleines Mädchen läuft neben ihr.
„Mutter!“, ruft die Tochter. „Du stehst im Weg. Komm bitte mit!“
Oma öffnet die Augen.
„Ich genieße nur“, sagt sie ruhig. „So etwas Gutes habe ich lange nicht gegessen.“
Die Tochter schaut fragend. „Was isst du da?“
Das kleine Mädchen sagt: „Die Oma isst Wurst. Die hat sie geschenkt bekommen!“
„Geschenkt?“, fragt die Tochter.
„Von der Verkäuferin“, erklärt Oma. „Beim Metzger. Gerade eben. Ein kleines Stück Fleischwurst. So wie früher.“
„Früher?“, fragt die Tochter.
Oma nickt. „Als ich ein Kind war, durfte ich oft mit meiner Mama zum Metzger gehen.
Und jedes Mal bekam ich ein Stück Wurst geschenkt.
Ich habe mich immer gefreut. Diese kleinen Stücke schmeckten ganz besonders gut.
Viel besser als Wurst auf dem Teller zu Hause.“
„Warum das?“, fragt die Tochter.
„Weil es ein Geschenk war“, sagt Oma. „Und weil ich mich gefreut habe.“
Sie schaut noch einmal das kleine Wurststück an.
Dann sagt sie leise: „So ein Stück Wurst kann eine Erinnerung sein.
An etwas Schönes. An eine Zeit, in der ich Kind war. Da war die Welt noch leichter.“
Die Tochter sagt: „Dann kaufen wir dir einen Ring Fleischwurst. Wenn dir das so gut schmeckt.“
Oma schüttelt den Kopf. „Nein, nein. So ist das nicht.
Ich brauche keinen Ring Wurst. Nur dieses kleine Stück – das war ein Geschenk.
Ein kleines Glück. Und es hat etwas in mir geweckt.“
Sie hält das letzte kleine Stück Wurst hoch.
„Nicht der Bauch hat sich gefreut – sondern mein Herz.“
Das kleine Mädchen nickt. Es versteht.
Die Tochter schaut nachdenklich.
Dann legt sie sanft den Arm um ihre Mutter.
Zusammen gehen sie weiter.
Ganz langsam.

© Elke Bräunling