Das geschenkte Wunder

Geschichte zur Lebenseinstellung – Dankbar, leben zu dürfen

„Ich schenke dir etwas!“, sagte das Kind zu dem alten Mann, der wie jeden Tag auf der Bank vor dem Haus saß und dem Leben bei seinem Lauf durch den Nachmittag zusah. Er sah ein bisschen traurig aus, müde und auch verloren irgendwie.
„Du möchtest mir etwas schenken?“, fragte der Alte. Der Hauch eines Lächelns erhellte sein Gesicht und ließ für einem Moment ein leises Licht in seinen Augen tanzen.
Das Kind nickte und sah ihn mit einer ernsten Miene an. Es schwieg.
„Was möchtest du mir denn schenken?“, fragte der Alte weiter. „Und warum?“
Wieder zögerte das Kind.
„Ein Wunder schenke ich dir!“, sagte es dann schnell. „Weil du heute Geburtstag hast.“
Der Mann lachte. „Das wäre in der Tat ein Wunder. Weil nämlich heute ganz bestimmt nicht mein Geburtstag ist.“
„Nicht?“ Erstaunt blickte das Kind auf. „Aber ja! Ganz bestimmt hast du heute Geburtstag. Und ich auch.“
„Du auch?
Wieder nickte das Kind. „Ja.“
„Fein!“ Der Alte nickte. „Dann lass mich dir gratulieren!“ Er streckte dem Kind die Hand entgegen. „Wie alt wirst du denn?“
„1665!“, antwortete das Kind wie aus der Pistole geschossen.
„1665?“ Der Mann stutzte, dann lachte er und jetzt sah er kein bisschen mehr verloren aus. „Da bist du aber schon sehr alt.“
„Ja, nicht? 1665 Tage schon. Ganz schön viele sind das.“ Stolz schwang in der Stimme des Kindes mit. „Meine Oma sagt, jeder Tag ist ein guter Tag und ein ganz besonderer, weil ich auf der Welt sein darf und weil ich gesund bin und dafür muss man dankbar sein. … Bist du dankbar?“
Der alte Mann erschrak. War er dankbar oder sah er in jedem neuen Tag nichts weiter als eine Last, weil er es hasste, alt zu sein? Dies, obwohl er sich bester Gesundheit erfreute, von den üblichen Altersproblemchen einmal abgesehen.
Aber hatte er jemals daran gedacht, dankbar zu sein? Nein. Gehadert hatte er mit seinem Leben, seit seine Frau und die meisten seiner Freunde diese Welt verlassen hatten. Aber er, er lebte noch. Und es ging ihm gut. Wie vermessen es doch war, undankbar zu sein und mit missmutigen, ja, ärgerlichen Gedanken seine Tage zu verbringen!
„Stimmt!“, sagte er schließlich. „Ich bin dankbar, dass du mich gerade wachgerüttelt hast, kleiner Zauberer, du. Und danke für dieses großartige Geburtstagsgeschenk.“
„Aber ich habe dir doch noch nichts geschenkt, und schon gar nicht ein Wunder.“
„Doch, das hast du. Gerade.“ Der Mann lächelte. „Und nun lass uns mal ausrechnen, wieviel Geburtstage ich schon habe. Oha, das sind so viele.“

© Elke Bräunling


Jeder Tag zählt, Bildquelle © Pezibear/pixabay

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