Alleine, aber nicht einsam

Geschichte für Senioren – Ein besinnlicher Nachmittag im Biergarten

Langsam und gemächlich trudelt ein gelbes Blatt mit braunen Punkten von hoch oben aus der Krone des Kastanienbaums abwärts. Es landet auf der rotkarierten Tischdecke zwischen Kaffeekännchen und Kuchenteller. Brombeerkuchen mit einem großzügigen Klecks Schlagsahne.
„Hallo, kleines Blatt!“, murmelt Susanne. „Du hast es aber eilig. Was tust du schon hier?”
Sie lächelt ein wenig wehmütig. „Bleib noch, Sommer! Ich brauche dich und deine Wärme!”
Sie denkt an die vergangenen dunklen Monate zurück. „Dein Licht tröstet mich.“
Da landet ein weiteres Blatt auf dem Tisch, dieses Mal direkt neben der Kaffeetasse.
Sie greift nach den beiden Blättern und betrachtet sie sich genauer. Eigentlich sehen sie noch nicht wie Herbstblätter aus, sondern eher wie Zeichen eines gelebten Lebens. Ein wenig verlebt und abgenutzt, mit kleinen Fältchen und Pigmentflecken. Wie das Gesicht einer alternden Frau und dennoch interessant und schön.
Wie … ihr Gesicht?
Susanne lächelt. Der Gedanke fühlt sich gerade ganz gut an, nicht wie sonst, wenn sie über ihr Alter nachdenkt. Sollte der Lebensherbst vielleicht gar nicht so schlimm sein, wie sie immer gedacht hat? Sie hat es doch gut gerade! Die Stimmung hier unter den Kastanienbäumen schenkt ihr Ruhe und Zufriedenheit, der Kaffee schmeckt vorzüglich und der Kuchen könnte nicht delikater sein.
Langsam und bedächtig genießt sie es, Zeit für sich zu haben und in aller Ruhe hier sitzen und sich an diesem milden Spätsommerwetter erfreuen zu können.
Es ist gar nicht so schlimm, alleine mit sich zu sein. Alleine seit Stefans Tod, aber nicht einsam, und diese Erkenntnis erscheint ihr wie ein großartiges Geschenk: sich selbst zu genügen und wohl zu fühlen. Und eigentlich fühlt sie sich auch gar nicht alleine. Die beiden Blätter haben sich zu ihr gesellt und in gewisser Weise unterhalten sie sich mit ihr. So, wie sie sich auch ganz ohne Worte mit Stefan unterhält, als säße er neben ihr. Anfangs ist das nicht so gewesen, aber mit der Zeit spürt sie immer deutlicher, dass er noch bei ihr ist.
„Hallo, mein Lieber!“, flüstert sie. „Ich sitze gerade in unserem liebsten Biergarten und genieße den Nachmittag. Vielleicht kannst du mich sehen? Der Kuchen schmeckt übrigens vorzüglich und …“
Sie hält inne, reißt die Augen auf. Eine weiße Daunenfeder trudelt vom Himmel und landet sanft auf ihrer Hand. Der Gruß eines Engels.

© Elke Bräunling


Biergartenidylle, Bildquelle © RitaE/pixabay

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