Es ist nie zu spät
Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Von Veränderungen im Leben
Wieder war ein Jahr ins Land gezogen, und sie spürte, dass ihr die Wechsel der Jahreszeiten nicht mehr so leicht fiel wie früher. Ja, selbst jeder Wetterwechsel machte ihr immer mehr zu schaffen. Der Kreislauf! Und auch ein bisschen das angeknackste Nervensystem.
“Die Psyche”, knurrte sie und verzog das Gesicht widerwillig zu einer Grimasse. “Besser, ich nenne das Kind beim Namen.”
Endlich. Diese Freiheit, mit sich selbst und mit ihrer Umgebung offen umzugehen, Schwächen zuzugeben, war auch ein Tribut des Älterwerdens. Wem musste sie sich beweisen? Viel leichter lebte es sich mit der Wahrheit. Und um ganz ehrlich zu sein: diese seelischen Hoch und Tiefs hatten ihr Leben schon immer begleitet. Nur ist es ein Unterschied, jene Empfindlichkeiten mit zusammengebissenen Zähnen zu ertragen und sie anderen gegenüber zu verschweigen – oder sie schlicht zuzulassen.
Im Rückblick musste sie sich, sehr zu ihrer Verwunderung übrigens, eingestehen, dass sie heute viel besser mit sich zurechtkam. Und mitnichten war dies eine Frage des Alters. Eher die der Weisheit.
Eine späte Weisheit? Sie haderte manchmal mit sich. Aber nein. Spät sind Erkenntnisse erst dann, wenn sie das Leben nicht mehr zu verändern vermögen.
“Zu spät?”, murmelte sie und hielt ihr Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. “Jeder Tag, den man mit einem “zu spät” verbringt, ist ein vergeudeter, ein nicht gelebter Tag. Also …?”
Sie lächelte und öffnete die Tür, die aus der Küche in einen kleinen Hof führte. “Es ist nie zu spät.”
Zu nichts ist es zu spät, auch wenn manche Schritte, dieses “zu spät” in ein “Es fühlt sich richtig an, so wie es nun ist” zu verwandeln, zunächst Zweifel, Ängste und Veränderungen bedeuten. Doch wer nicht wagt …
Sie überquerte den Hof und klopfte an die Tür des angrenzenden Hauses, das einmal eine Scheune gewesen war, öffnete sie.
“Lust auf einen Espresso?”, rief sie in die gemütliche, ländlich eingerichtete Wohndiele.
“Immer. Bin gleich da”, antwortete von irgendwoher eine Stimme.
Sie lächelte wieder.
Wie viele Jahre hatte sie diese Szene geträumt und deren Umsetzung in die Realität mit einem “Das geht nicht” und dem obligatorischen “zu spät” verworfen? Zu viele. Doch es war noch nicht zu spät, und dieses Wissen fühlte sich gut an …
© Elke Bräunling
Es ist nie zu spät, Bildquelle © Engin_Akyurt/pixabay
Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause
Ich liebe diese Geschichte
Danke, Magda.
Um ehrlich zu sein: Ich habe mir, nachdem ich diese Geschichte geschrieben hatte, sehr oft an die eigene Nase gefasst … und auch einen Traum wahr gemacht. Ein uraltes, vergammeltes Bauernhäuschen. Und trotz der vielen nervigen Arbeit damit und daran bereue ich es nicht. Denn: Es ist nie zu spät …
Lieber Gruß und schönes Wochendende
Ele
Eine schöne Geschichte, die zum Nachdenken anregt.
Sie konfrontiert uns mit der späten Weisheit. Diese kommt manchmal spät, aber hoffentlich nicht zu spät. Erst dann wäre sie vergeblich.
Und wer ist denn der Geheimnisvolle, der sich auf die Frage „Lust auf einen Espresso“ meldet? Warum musste die Erzählerin erst viele Jahre von dieser Szene träumen, ehe sie sich dazu aufrafft, die Frage endlich laut zu stellen? Das regt zum Nachdenken an. Vielen Dank.
Ich glaube, vergeblich ist nichts im Leben. Alles hat -irgendwie- seinen Sinn, auch wenn man den oft erst gar nicht als solchen erkennt.
…
Der Geheimnisvolle? Unter dem Aspekt, dass es sich um einen Mann handeln könne, habe ich noch gar nicht gedacht. Vorlage beim Schreiben war eigentlich der Traum vom Bauernhäuschen, den so viele mit sich durch ein Leben tragen und nie wahrmachen. In dieser Geschichte hatten zwei Schulfreundinnen diesen Traum. (Meine Freundin und ich hatte ihn auch … mal)
Liebe Grüße
Ele