Die blaue Schleife

Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Begegnung im Park und Erinnerungen an die Kindheit

„Ich habe dich gesehen. Du trugst eine Schleife im Haar. Sie war vergissmeinnichtblau und ließ deine Augen noch heller strahlen. Oh, wie lange ist das her!“
Uroma Marie schrak zusammen. Träumte sie? War sie gar eingeschlafen? Sie hatte sich doch nur für ein paar Minuten auf ihre Lieblingsbank im Park beim Spielplatz gesetzt, um die ersten wärmenden Sonnenstrahlen zu genießen. Sie warf einen raschen Blick zu den Schaukeln hinüber. Die kleine Mia, die sie in den Park begleitet hatte, saß noch dort und unterhielt sich mit dem Entenpaar, das nach Futter bettelte. Bis hierher konnte sie ihr Lachen hören.
Uroma Marie lächelte. Ihre Urenkelin war genau so verträumt, wie sie es als Kind gewesen war und noch immer ist. Auch sie hatte stundenlang im Garten gesessen und sich mit den Tieren und Blumen unterhalten. Sie tat es noch heute. So etwas verlernte man nicht.
Eben aber hatte jemand anderes zu ihr gesprochen. Das hatte sie sich doch nicht eingebildet? Sie fuhr herum und starrte den Mann an, der sich auf der Nachbarbank niedergelassen hatte. Ein alter Herr mit Gehstock. Er trug einen eleganten Herrenhut und einen gepflegten grauen Sommeranzug. Kaschmir wohl.
Was für eine angenehme Erscheinung!
Uroma Maries Augen funkelten. Sie funkelten vergissmeinnichtblau.
„Meinten Sie mich eben?“, fragte sie.
Der Fremde zog den Hut und deutete eine Verbeugung an.
„Ich fürchte, ich hatte Sie gerade verwechselt. Es tut mir leid.“ Er zögerte. „Sie erinnern mich an eine junge Dame, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Sie trug eine vergissmeinnichtblaue Schleife im Haar und ein Lächeln wie Ihres.“
Uroma Marie musste gegen das Lachen ankämpfen. „Eine junge Dame bin ich in der Tat nicht mehr. Aber es tut gut, auf so nette Weise wieder einmal daran erinnert zu werden.“
Nun lachte sie doch und der Fremde stimmte in ihr Lachen mit ein.
„Ich würde wetten, Sie trugen auch Schleifen im Haar. Damals, als es noch Mode war.“
„Wette gewonnen.“ Uroma Marie nickte. „Und wissen Sie, am liebsten mochte ich die Farbe blau.“
„Ich will auch eine Schleife im Haar tragen.“ Die kleine Mia hatte sich neben sie auf die Bank gesetzt. „Eine blaue.“
„Das trifft sich gut. Ich habe nämlich eine aufbewahrt. Zur Erinnerung.“
„Toll!“ Das Kind klatschte in die Hände. „Darf ich sie morgen tragen, wenn wir wieder zum Spielplatz gehen?“
Uroma Marie nickte und auch der Fremde nickte.
„Das ist eine wundervolle Idee“, sagte er. „Was meinen Sie?“
Uroma Marie sagte erst einmal nichts, aber ihre Augen strahlten. Vergissmeinnichtblau.

© Elke Bräunling

Weitere Gespräche auf der Parkbank:

Zu alt?
Herr Müller und Herr Maier
Der Hanswurst
Rücksichten
Der Wind und die Träume
Der Fußball, die Liebe und die bunten Erinnerungen
Die blaue Schleife
Frau Berger lächelt
Himmel und Hölle
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Das Herz im Park

 

 

 

 

 

 

 

Schleife im Haar, Bildquelle © darkmoon1968/pixabay

Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause

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