Man ist nie zu alt für ein gutes Buch

Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Lesestoff soll nicht langweilig sein

Oma Liese empfängt ihre Bücherdamen zu Besuch. Einmal im Monat treffen sie sich zu Kaffee und Kuchen, um über Bücher, die sie gerade lesen, zu plaudern. Das macht Freude und Oma Liese liebt diese Nachmittage sehr. Wenn nur nicht Ilse Bergehoff wäre! Sie ist neu in diesem Kreis und hat erst vier Mal bei ihren Treffen teilgenommen. Das sind vier Mal zu viel, wie sich Oma Liese heimlich eingesteht und sie verflucht in Gedanken den Tag, an dem sie die energische Dame, die neu zugezogen und früher einmal eine sehr beschäftigte Steuerberaterin gewesen ist, in ihren Kreis eingeladen hat. So sehr beschäftigt will diese nämlich nun auch in ihrem Rentendasein sein, und zwar bei allem, was sie tut. Auch beim Lesen.
„Lesen muss bilden“, hat sie beim letzten Treffen gesagt. „Bücher, die nur der Unterhaltung dienen, mögen zwar kurzweilig sein, doch sie unterfordern unser Gehirn. Wollen wir das?“
Fragend hat sie in die Runde geblickt und dann den ganzen Nachmittag über Bücher doziert, die für Oma Liese und ihre Freundinnen nur eines waren: langweilig, belehrend und so gar nicht liebenswert. Fast haben sich die Damen daraufhin geniert, dazu etwas zu sagen. Hätten sie bekennen sollen, dass sie weniger die hohe Literatur, sondern eher Krimis, unterhaltende Familienromane und ganz besonders auch Bücher für Kinder lieben? Leser dieser Bücher sind doch nicht blöde! Aber nein, niemand hat zu widersprechen gewagt und keine von ihnen hat sich bei diesen letzten Treffen noch wohl gefühlt. Selbst der Kuchen hat nicht mehr ganz so süß geschmeckt und der Kaffee nicht mehr ganz so aromatisch. Nur Ilse Bergehoff hat während ihres Vortrags ein Kuchenstück nach dem anderen in sich hinein geschaufelt, nicht ohne anzumerken, dass Zucker sehr schädlich sei, besonders für das Gehirn.
Ja, so ist das beim letzten Mal gewesen und so soll es künftig nicht mehr sein. Fest hat sich Oma Liese dies für den heutigen Nachmittag vorgenommen. Farbe bekennen zu ihrem Lesestoff und den Büchern, die sie liebte. Ja, das möchte sie und insgeheim hofft sie, dass die Freundinnen ihrem Beispiel folgen würden.
„Ich lese gerade wieder einmal die Bücher von Astrid Lindgren“, beginnt sie, während sie den Kaffee einschenkt. „In ihre Welt kann ich mich wunderbar hinein träumen.“
„Stimmt“, sagt ihre Freundin Anna. „Sie sind ehrlich, ihre Bücher. Und gar nicht altmodisch, oder? Am liebsten mag ich Pippi Langstrumpf, dieses Powermädchen.“
„Und den Michel“, juchzte Grete Liebmann auf. „Was hat der Bursche für einen Charme!“
„Die Brüder Löwenherz haben mir neulich sehr geholfen, als ich meine kleine Nichte trösten wollte“, sagt Marion Weiner versonnen. „Was täten wir ohne diese Bücher?“
„Es sind doch nur Kinderbü …“, will Ilse Bergehoff sagen. Ihre Nase hat sie schon gerümpft, doch die Worte weigern sich dann doch, ausgesprochen zu werden. Sie erschrickt, schweigt für einen Augenblick, dann überzieht ein zaghaftes Lächeln ihr Gesicht.
„Ich habe alle Bücher von Astrid Lindgren in einer meiner Umzugskisten, die noch unausgepackt im Keller stehen“, murmelt sie. „Und die Bücher von Erich Kästner, Michael Ende, Else Ury, Karl Mey und andere. Viele habe ich noch von meiner Mutter und ich bringe es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Aber sagt, kann man als alte Frau noch Kinderbücher in seine Bücherregale stellen?“
„Man kann“, sagt Oma Liese.
„Warum nicht?“, fragt Marion.
„Sie leben mit uns und sie werden uns auch überleben“, fügt Grete hinzu.
„Und das ist gut so, oder?“ Anna klatscht in die Hände und blickt Ilse Bergehoff an. „Und beim nächsten Treffen bei dir packen wir deine Kinderbücher gemeinsam aus und suchen einen schönen Platz in deinem Bücherregal aus. Einverstanden?“
Ilse zögert, dann nickt sie und die Damen applaudieren.
„Vielleicht wird doch alles wieder gut!“, denkt Oma Liese und holt schnell die Likörgläser aus dem Schrank. Einen leckeren, selbst gemachten Eierlikör können sie nun alle vertragen.

© Elke Bräunling

 

 

 

 

 

 

 

Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause

Bildquelle © sabinevanerp/pixabay

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