Wer ist schon perfekt?, Geschichte für Senioren zum Vorlesen

Eine fast alltägliche Geschichte für Groß und Klein – Vom Druck, den man sich selbst oft macht

Manchmal weint Mama, ohne dass etwas Schlimmes geschehen ist.
„Was ist passiert, Mama?“, frage ich, doch sie antwortet nicht. Sie schluchzt nur und hält das Gesicht mit den Händen bedeckt.
„Bist du traurig?“, bohre ich weiter. „Sag doch etwas, Mama!“
Es dauert noch eine geraume Weile, bis sie die Worte findet, die ihr auf der Zunge liegen und nur schwer gesagt werden wollen. Auch das Fühlen mischt beim Suchen der Worte mit und oft trüben dann Tränen Mamas Blick.
Sie schluchzt wieder auf. Dann nimmt sie die Hände vom Gesicht, spitzt die Lippen, sucht die Worte, die sich im Hals und hinter der Zunge versteckt halten, und bringt das, was sie sagen möchte, nur mit einem Stottern heraus:
“I-ich sch-schaaffe es nicht. D-dieses P-perfekte“, stammelt sie. „E-es i-ist n-nie p-perfekt, was ich tue. D-die G-grenzen, an die ich s-stoße, sind überall. Sie umgeben mich wie hohe Mauern und ich kann sie kaum überwinden. G-g-grenzen! Überall G-grenzen.“
Ich verstehe nicht, was sie meint. Welche Grenzen? Und wo sind die Mauern, von denen sie spricht? Aber ich weiß auch, dass ich sie dies nicht fragen darf. Dies gerade auf keinen Fall.
„Du wolltest nur die Wäsche aufhängen und im Garten den Rosenzweig festbinden und danach wolltest du einen Geburtstagsbrief an Großonkel Edgar schreiben“, sage ich. „Ein perfekter Plan. Und mehr hattest du für heute Nachmittag nicht vor.“
„Nur?“ Sie lacht auf und dieses Lachen klingt heiser. „Unterwegs zur Wäscheleine fallen mir hundert und mehr Dinge ein, die auch noch erledigt werden wollen. So ist es immer und dies ist noch nicht alles. Soll ich dir sagen, wie viele Dinge in meinem Kopf darauf drängen, erledigt werden zu wollen. Gut und richtig erledigt, denn was nicht perfekt ist, gilt nicht. Und ich, ich bin es auch nicht.“
Wieder hält sie sich die Hände vors Gesicht. Sie weint nun. Leise. Verzweifelt.
Auch ich kämpfe mit den Tränen. Mamas Wunsch, perfekt zu sein, begleitet uns seit einiger Zeit schon. Wann wird sie es begreifen, dass kein Mensch das kann und dass all dieses Perfekte ganz schön langweilig ist?
Auch Worte sind oft nicht perfekt. Und ich, ich bin es auch nicht. Und ehrlich, ich will es auch gar nicht sein. Perfektsein ist doof und es klaut dem Tag so viel wertvolle Zeit, in der man andere Dinge tun könnte. Solche, die nicht die Tränen aufwecken.

© Elke Bräunling

Daumen hoch!, Bildquelle © Pezibear/pixabay

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