Anna verschenkt den Frieden

Anna verschenkt den Frieden

Eine leise Geschichte über Frieden, Krieg und Menschlichkeit

Wenn die Welt aus den Fugen gerät, helfen manchmal kleine Gesten.
In dieser leisen Geschichte vom Frieden bastelt Anna Friedenstauben – aus Papier, aus Gedanken, aus Hoffnung.
Eine stille Erzählung über den Wunsch nach Frieden, das Weitergeben von Mut und die Kraft der Worte.
Für Erwachsene und Senioren – zum Innehalten, Nachdenken und Vorlesen.

 

 

Anna verschenkt den Frieden

Anna ist im Bastelfieber. Aus festem Papier schneidet sie Vögel aus. Es sind große Vögel. Tauben.
„Ich mag keine Tauben“, sagt sie. „Doch jetzt muss das sein. Ich mag nämlich auch keine Kriege. Die noch weniger als Tauben. Sie sind sinnlos und töricht.“
Bedrückt blickt sie auf die Papiertauben, die vor ihr liegen.
„Wenn es helfen könnte, weiße Friedenstauben auszuschneiden und in die Fenster zu hängen, dann würde ich sie überall im Städtchen verteilen“, murmelt Anna und betrachtet ihre schmerzenden Finger. „Aber zuerst mache ich eine kleine Pause.“
Mit hängendem Kopf schlurft sie in die Küche, füllt den Wasserkocher und setzt ihn in Gang. Dann huscht sie in den Garten und pflückt eine Handvoll Melissenblätter. Hm, sie duften köstlich nach Zitrone.
Anna schließt die Augen und genießt den würzigen Geruch des Krautes. Es duftet wie immer und das tröstet sie ein wenig. Die Natur verändert sich nicht. Die hat ja auch mit Kriegen nichts am Hut.
„Nur die Menschen sind so dumm“, murmelt sie nun. „Nein, nicht die Menschen. Ein paar wenige von denen da oben sind’s nur. Die aber machen sich mit dummen Reden im Fernseher wichtig und verbreiten Angst.“ Sie seufzt.
„Wir schalten das Fernsehgerät einfach nicht mehr an, nicht wahr, Peterle?“
Sie streichelt ihrem alten weißen Kater übers Köpfchen. „Ihr Tiere habt auch mal einen Streit. Ihr zofft euch ein bisschen und dann ist es wieder gut.“
Peterle schnurrt und Anna fühlt sich ein bisschen besser.
Langsam geht sie zurück zur Küche. Der Wasserkocher hat schon gepiept.
„Nur, macht der Krieg vor meiner Haustür halt, wenn ich ihn einfach so aus meinen Gedanken streiche? Man muss doch auch an die Kinder denken. Oh, oh! Was für schwere Fragen jetzt noch in meinem Alter!“
Sie legt die Kräuter in die Teekanne und übergießt sie mit dem Wasser.  Nun muss der Tee noch ziehen. Anna geht zurück zu ihren Papiertauben.
„Ich muss nach Worten für euch suchen“, erzählt sie ihnen.
Anna weiß, wie schwierig es ist, die richtigen Worte zu finden. Ihr ganzes Leben lang hat sie nach ihnen gesucht.
Sie nimmt einen schwarzen Stift und schreibt mit Großbuchstaben ‚FRIEDEN’ auf den Bauch einer Taube. Und darunter: ‚Haltet den Frieden fest!‘
Prüfend sieht sie ihr Werk an. Ja, das gefällt ihr. Sie greift zur nächsten Taube und schreibt: ‚FRIEDEN. Frieden ist Glück!‘
Und plötzlich muss sie nicht mehr um Worte ringen. Es fließt und scheint so einfach. Viele Dinge fallen Anna ein, die den Frieden ausmachen. Als sie schließlich schreibt: ‘Frieden – ich trage ihn in mir!’ ruft sie selig: „Genau das ist es doch!“
Dann bastelt sie weiter. Tauben. Viele. Mit vielen schönen Worten. Und sie würde sie alle verschenken. Für den Frieden.

© Elke Bräunling

Illustration: Geschichte "Anna verschenkt den Frieden" in geschichtenseiten.de Alte Dame schneidet Friedenstauben aus Papier aus, auf dem Fensterbrett sitzt eine weiße Katze

 

Vereinfachte Version für an Demenz erkrankte Zuhörer

Anna bastelt den Frieden – einfache Fassung

Anna sitzt am Tisch.
Sie bastelt. Sie schneidet große Vögel aus Papier. Es sind Tauben. Weiße Friedenstauben.
„Ich mag eigentlich keine Tauben“, sagt Anna.
„Aber ich mag auch keine Kriege. Die sind viel schlimmer als Tauben!“
Sie schaut traurig auf die Papiervögel.
„Wenn es helfen würde, würde ich überall im Städtchen Friedenstauben aufhängen“, murmelt sie.
Dann steht sie auf.
Sie geht in die Küche und macht sich Tee.
Draußen im Garten pflückt sie Zitronenmelisse. Der Duft macht ihr gute Laune.
„Die Natur ist friedlich“, sagt Anna. „Die streitet nicht.“
Sie streichelt ihren alten Kater. „Peterle, du streitest nur ganz selten, stimmt’s?“
Der Kater schnurrt.
Anna denkt an die vielen schlimmen Nachrichten im Fernsehen.
„Wir schalten das einfach nicht mehr an“, sagt sie und geht zurück an den Basteltisch.
Sie nimmt einen Stift und schreibt auf die erste Taube: ‚FRIEDEN. Bitte haltet den Frieden fest!‘
Dann nimmt sie die nächste Taube. ‚FRIEDEN ist Glück‘, schreibt sie.
Und wieder eine: ‚FRIEDEN. Ich trage ihn in mir.‘
Anna lächelt. „Genau so ist es“, sagt sie.
Sie bastelt weiter.
Viele Friedenstauben. Mit guten Worten.
Sie will sie alle verschenken – für den Frieden.

© Elke Bräunling