Die „Tränen“ der Sonne
Geschichte für Groß und Klein über die Wunder unserer Welt
„Die Sonne weint“, sagt das Kind. Es sitzt auf der Schaukel im Park und blickt wie verzaubert zum Himmel hinauf. „Ganz viele Tränen schickt sie uns. Siehst du?“
„Tränen? Die Sonne?“ Der Großvater wundert sich. „Die Sonne weint nicht. Noch nie habe ich Sonnentränen gesehen. Du träumst, mein Schatz.“
„Nein, ich sehe sie, die Tränen der Sonne. Sie schimmern golden und silbern und sind ganz klein.“
„Was denkst du, warum sie weint?“, fragt der Großvater und kneift seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. „Vielleicht, weil sie uns etwas erzählen will?“
Das Kind blickt den Großvater mit wissendem Blick an.
„Ja, genau so ist das: Sie will uns etwas erzählen und keiner hört ihr zu. Alle wollen immer nur, dass sie da ist und warm strahlt. Mehr will keiner von ihr wissen. Auch die kleine Elfe dort im Flieder sieht keiner. Hallo Elfe!“ Es winkt und geht zum Fliederbusch hinüber.
Der Großvater folgt ihm. Behutsam setzt er Schritt vor Schritt. Auch er möchte die Elfe sehen.
„Schau, kleine Elfe, das ist mein Opa. Du musst dich nicht fürchten, er ist sehr lieb“, stellt das Kind ihn vor.
Die Elfe winkt ihnen zu. Nein, sie hat keine Furcht vor den Menschen. Im Gegenteil, sie freut sich, wenn manche ihr in die Augen blicken und ihr ihre Freude zeigen, ihre Liebe und auch ihren Kummer. Und in den letzten Jahren sind es mehr geworden, die zu ihr zu Besuch kommen. Das ist gut so. Nun lächelt sie den beiden entgegen.
„Hallo!“, flüstert sie. „Ich freue mich. Seid willkommen in meiner Welt.“
Ob die beiden Menschenkinder sie hören können?
„Hast du es gehört?“, fragt das Kind aufgeregt und wendet sich wieder der Elfe zu. „Danke!“, flüstert es. „Wir freuen uns auch.“
„Ich konnte leider nichts hören, du weißt ja, meine Ohren sind nicht mehr die Jüngsten.“ Der Großvater lacht. Er freut sich, dass er das kleine Elfenmädchen sehen kann, das grenzt schon an ein Wunder.
Kurz verzieht die kleine Elfe ihr Gesichtchen und das Kind tut es ihr gleich. Dann lachen die beiden einander an, kurz nur, und aus dem Haar der Elfe steigen goldene Flimmerpünktchen auf, die in der Luft zu tanzen beginnen. Sie ähneln den Tränen der Sonne.
Das Kind staunt, will etwas sagen, doch da fängt die Elfe an zu singen. Lieblich und auch laut. So laut, dass der Großvater sie hören kann und auch er sieht die Sonnentränen nun.
„Ein Wunder“, flüstert er. „Dass ich das erleben darf!“
Ein paar Tränen rinnen über seine Backen. „Wie schön ist doch unsere Welt! Oh, wie schön! Man muss sie nur mit den richtigen Augen sehen.“
„Und mit den richtigen Ohren hören“, fügt das Kind hinzu. „So wie auch das Lachen der Steine. Hörst du es, Opa?“
Lachende Steine? Was hört dieses Kind denn nun schon wieder? Der Großvater lauscht angestrengt und hört …
Doch halt das ist bereits eine neue Geschichte. Lernen wir erst einmal wieder, das Singen der Elfen zu hören und die Tränen der Sonne zu sehen. Pssst!
© Elke Bräunling
Staunen, Bildquelle © timkraaijvanger/pixabay