Mai des Herbstes
Erzählung zum Herbstbeginn – Ein leises Schwärmen für die Reize des Septembers
Es ist so weit. Der Herbst kommt. Gemächlich wandert er durchs Land und richtet sich ein. Er lässt die Blicke schweifen über die Wiesen und Felder, die Weinberge und Obstgärten, die Wälder, Flussauen, Seen und Berge und es scheint, als wisse er noch nicht so recht, wo er sich niederlassen und wann er mit seiner Arbeit beginnen soll. Er hat es nicht eilig. Noch immer regiert der Sommer mit schwacher Hand das Land. Freiwillig würde er, das ist dem Herbst aus Vorjahren bekannt, nicht das Zepter abgeben.
Man nennt den September gerne den ‚Mai des Herbstes’. Er ist nämlich oft noch einmal besonders schön warm. Die Sonne lässt die ersten bunten Blätter besonders golden und die Silberfäden der Altweibersommerspinnen besonders silbern leuchten. Ringsum wird es immer farbenfroher. Alle Früchte sind nun reif und man glaubt, die Bäume würden unter der Pracht des Obstes zusammenbrechen.
Und riecht es nicht köstlich im ‚Mai des Herbstes’? Nach Morgentau, reifem Obst, Vanille, Pfifferlingen, Kartoffelfeuerrauch und aufziehendem Nebel? Am frühen Morgen liegt manchmal schon Raureif auf den Wiesen. Er verwandelt sie in funkelnde Diamantenmeere. Mittags leuchten dir von überall her kleine blasse lilafarbene Punkte entgegen. Es sind die Blüten der Herbstzeitlose.
Seltsam fühlen sich jene Tage zwischen Sommer und Herbst an. Es dauert länger, bis es am Morgen hell wird. Und der Tag hat es eilig. Schneller, viel schneller als in den trägen Sommertagen rast er durch die Sunden und früh, viel zu früh, reicht er der Nacht die Hand. Wir wollen ihn festhalten, ihn und seinen warmen Atem. Er aber winkt nur kurz zum Abschied, malt rosafarbene Herzen an den Abendhimmel und macht sich davon.
Und dann, über Nacht, übernimmt der Herbst ganz das Ruder und lässt dem Sommer keinen Platz mehr. Die Zeit hat einen Schritt gemacht und langsam kehrt Ruhe ein. Herbstruhe.
© Elke Bräunling