Ein ganz besonderer Sommer
Ein ganz besonderer Sommer
Sommererzählung
Ein Spaziergang im Sommer, ein flüchtiger Moment, der ein Leben erinnert:
„Manchmal braucht man nur ein bisschen Brot, einen warmen Platz – und jemanden, der keine Fragen stellt.“
Ein leiser Spätnachmittag im Sommer. Eine alte Frau, ein Kind, ein Spaziergang – und eine Erinnerung, die jahrzehntelang geschwiegen hat.
Diese berührende Sommergeschichte ist mehr als eine Erzählung – sie ist ein kleines Zeitfenster in eine Welt, die viel erlebt, aber wenig gesprochen hat.
Ein Text, der Jung und Alt verbindet – warm, poetisch und voller Nachklang.
Mit Kurzfassung in einfacher Sprache und Gesprächsimpulsen – ideal auch für die Biografiearbeit mit Senioren.
Kurzfassung in einfacher Sprache siehe unten
Ein ganz besonderer Sommer
Die Sonne stand schon tief, als Elise mit ihrer Urenkelin Marly einen Spaziergang über den Wiesenpfad zum nahen Wald machte. Es war ein leiser Spätnachmittag. Weich strich der Wind durch das Gras. Er trug den Duft von Holunder, Thymian, frischem Heu und feuchter Erde mit sich. Die Vögel hatten ihren Gesang beendet, als wollten sie den ruhigen Nachmittag nicht stören. Nur ein paar Spatzen stritten noch im Gebüsch, und über ihnen zog der Milan majestätisch seine Runden. Am Wegrand huschten Feldmäuse mit leisem Rascheln davon. Von nicht ganz weit weg blökten Schafe.
„Oma, schau mal! Schafe! Und da! Ein Wagen mit Rädern! Ob da jemand wohnt?“
Marly lief ein paar Schritte voraus, nein, sie hüpfte. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war.
Elise schmunzelte und folgte ihr langsam, den Spazierstock in der Hand.
„Guten Abend!“ Ein Schäfer trat mit seinen zwei Hunden aus dem Schatten des Wagens und tippte sich zum Gruß an die Stirn. Er lächelte.
„Guten Tag“, murmelte Elise, und Marly deutete auf ein kleines Lamm:
„Darf ich es streicheln?“
Der Schäfer nickte, und Marly kniete sich vor dem Lämmchen nieder.
Elise aber erschrak. Sie schloss für einen Moment die Augen – und alles war wieder da. Der Geruch. Die Geräusche. Die Bilder. … Etwas, das lange geschwiegen hatte, wurde auf einmal wieder lebendig.
„Ist alles in Ordnung, Oma?“ Marly blickte erschrocken zu ihr herüber.
Elise schwieg, dann murmelte sie leise:
„Ich war einmal an einem Ort, der diesem sehr ähnelte.“
Sie setzte sich auf einen Baumstamm. Ihre Knie mochten nicht mehr so, wie sie sollten. Aber ihr Herz erinnerte sich noch.
„Es war ein Sommer. Ein paar Jahre nach dem Krieg. Und ich war in deinem Alter.“
Marly sah sie staunend an.
„Ich verbrachte die Ferien im Landheim. Wir Stadtkinder wurden damals zur Erholung aufs Land geschickt. Aber ich konnte mich dort nicht erholen. Alles war so streng und dunkel. So hart, fremd und unfreundlich. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und lief weg. Ich wusste nicht, wohin.“
Sie sah zu dem Schäfer hinüber, der auf seinen Stock gestützt bei ihnen stand und aufmerksam zuhörte.
„Und dann traf einen jungen Schäfer, der allein mit seiner Herde unterwegs war. Vielleicht war er neunzehn oder schon ein wenig älter. Ich weiß es nicht mehr genau. Auf jeden Fall kümmerte er sich um mich.“
„Und? Was hat er so gesagt?“, fragte Marly.
„Nicht viel“, antwortete Elise. „Damals haben die Menschen wenig gesprochen. Auch wir Kinder nicht. Es war, als hätte uns der Krieg die Sprache genommen. Aber seine Augen, die konnten reden.“
Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Er gab mir Brot, Käse, Milch – und eine Decke. Und ich durfte bleiben.“
Der Wind raschelte im Gras. Elise atmete tief durch.
„Über zwei Wochen zogen wir mit der Herde über die Hügel. Ich habe gelernt, den Wind zu lesen, Regen zu riechen, dem Hund zu vertrauen und die Schafe zu lieben. Und ich habe begriffen, dass man manchmal nichts braucht, außer einem warmen Platz, ein bisschen Brot und jemanden, der dir keine Fragen stellt.“
Marly hatte sich neben sie gesetzt, ganz nah. Ihre Hand lag auf Elises Knie.
„Und dann?“, fragte sie leise.
„Dann kam der Regen. Die Wälder wurden dunkel. Es war kalt und nass, und ich bekam Husten. Mein Schäfer konnte mir nicht helfen. Er brachte mich zurück. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Aber irgendwie ist er doch geblieben. In meinen Gedanken.“
Der Schäfer lächelte. Schweigend nahm er die Kanne vom Feuer und goss duftenden Kräutertee auf. Dann reichte er ihnen die Emaillebecher.
Elise trank einen Schluck, sah ihn lange an.
„Das tut gut. Danke“, sagte sie. „Sie erinnern mich an jemanden. Sehr sogar.“
Er nickte nur. Und vielleicht wusste er mehr, als Worte sagen können.
Als sie später den Heimweg antraten, hielt Marly Elises Hand. Ganz fest.
Sie sagte nichts. Aber sie wusste jetzt:
Ihre Uroma erzählte nicht bloß Geschichten. Sie war eine.
© Elke Bräunling
Fragen zur Geschichte für ein Gespräch
* Waren Sie als Kind im Sommer auf dem Land?
* Haben Sie früher Schäfer gesehen? Oder selbst Tiere gestreichelt?
* Was war Ihr liebstes Sommeressen?
* Haben Sie auch einmal jemandem vertraut, der nur still bei Ihnen war?
* Was war für Sie ein ganz besonderer Sommer?
☀️ Jung und süß und sommerfröhlich 🪲 Marienkäfersommer und Hochzeitsglück 🌤️ Oma und das kranke Wetter 🍰 Alles, nur keine Rüben 💬 Das nette Wort 💛 Die Stimmen der Natur 🌺 Die bunten Farben des Sommertags
Kurzfassung in einfacher Sprache
☀️ Ein ganz besonderer Sommer
Einfache Version für ältere Menschen
Es war ein warmer Nachmittag im Sommer.
Die Sonne stand schon tief am Himmel.
Elise ging mit ihrer Urenkelin Marly spazieren.
Sie liefen über einen Wiesenweg in Richtung Wald.
Der Wind war weich und trug viele Sommerdüfte mit sich:
Holunder, Thymian, frisches Heu und feuchte Erde.
Die Vögel waren still.
Nur ein paar Spatzen stritten noch im Gebüsch.
In der Ferne blökten Schafe.
„Oma, schau mal! Schafe! Und da ist ein Wagen!“, rief Marly.
„Ein Schäferwagen!“
Sie hüpfte fröhlich voraus.
Elise folgte ihr langsam
Da trat ein Schäfer aus dem Schatten.
Zwei Hunde waren bei ihm.
Er lächelte und grüßte freundlich.
Marly zeigte auf ein kleines Lamm.
„Darf ich es streicheln?“
Der Schäfer nickte. Marly kniete sich zum Lamm.
Elise aber blieb stehen.
Sie schloss kurz die Augen.
Plötzlich war alles wieder da:
Ein Sommer vor langer Zeit.
Der Duft. Die Geräusche. Die Erinnerung.
„Geht es dir gut, Oma?“, fragte Marly leise.
Elise nickte und sagte:
„Ich war einmal an einem Ort, der diesem hier sehr ähnelte.
Ich war damals so alt wie du jetzt.“
Sie setzten sich auf einen Baumstamm.
Dann erzählte Sies:
„Nach dem Krieg war ich in einem Landheim zur Erholung.
Aber es war dort kalt, streng und unfreundlich.
Eines Tages lief ich einfach weg.
Ich wusste nicht, wohin.
Und dann traf ich einen jungen Schäfer.
Er war ganz allein mit seiner Herde.
Er sagte nicht viel – aber er war freundlich.“
Elise lächelte.
„Er gab mir Brot, Käse, Milch – und eine Decke.
Ich durfte bei ihm bleiben.
Zwei Wochen lang zogen wir gemeinsam über die Hügel.
Ich lernte den Wind zu spüren, dem Hund zu vertrauen
und die Schafe zu lieben.
Ich war glücklich.“
Marly hörte still zu.
„Und dann?“, fragte sie.
„Dann kam Regen. Es wurde kalt. Ich bekam Husten.
Der Schäfer brachte mich zurück.
Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Aber ich habe ihn nie vergessen.“
Der Schäfer bei ihnen lächelte nur.
Er reichte ihnen eine Tasse mit warmem Kräutertee.
Elise trank einen Schluck.
„Danke“, sagte sie. „Sie erinnern mich an jemanden.“
Später gingen Elise und Marly zurück nach Hause.
Marly hielt ihre Hand ganz fest.
Sie sagte nichts.
Aber sie wusste nun:
Ihre Uroma erzählte nicht nur Geschichten.
Sie war eine Geschichte.
© Elke Bräunling
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