Das Lied aus der Heimat
Das Lied aus der Heimat
Geschichte für Senioren zum Vorlesen
„Auch ein bisschen Heimweh kann weh tun.“
Eine stille Begegnung zwischen Jung und Alt,
verbunden durch ein Lied.
Manchmal reicht ein leiser Ton, ein bestimmtes Lied oder ein Geruch – und schon sind alte Erinnerungen wieder da. Besonders bei älteren Menschen weckt ein vertrautes Lied Gefühle von früher: an die Kindheit, an Menschen, an Heimat. Auch Kinder spüren manchmal Heimweh. Wenn sie an ihre alte Heimat denken, vermissen sie ihre Familie oder einen vertrauten Ort.
In dieser Geschichte begegnen sich ein Kind und eine ältere Frau. Sie sprechen nicht viel. Doch das Lied verbindet sie – über Generationen und Lebensgeschichten hinweg.
Mit einer kürzeren Zweitfassung in einfacher Sprache (siehe unten).
Das Lied aus der Heimat
Das Mädchen saß am Stadtbrunnen. Schon eine Weile saß es hier, fast reglos. Den Kopf hielt es gesenkt, die Hände waren ins Wasser getaucht. Einzig die Finger bewegten sich. Mit leisem Plätschern formten sie kleine strudelnde Wellen im sonst ruhigen Brunnenwasser. Dabei sang das Kind ein Lied. Es war ein fremdes Lied und es klang sehr fein und liebevoll, ein bisschen schwermütig auch.
„Schlaf mein Kind, ich wieg dich leise. Bajuschki, baju. Singe die Kosakenweise. Bajuschki baju. Draußen rufen fremde Reiter durch die Nacht sich zu. Schlaf, mein Kind, sie reiten weiter. Bajuschki, baju…“
Die alte Frau Walscky, die fast jeden Nachmittag auf der Bank beim Brunnen saß und dem Plätschern lauschte, schrak aus ihren Gedanken.
„Das Lied. Es ist so schön und es erinnert mich an daheim, als unsere Großmutter es für uns Kinder zur Nacht sang“, murmelte sie. Sie hob den Kopf und sah das Mädchen an. „Bist du traurig, mein Kind?“
Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. „Ein bisschen“, antwortete es dann aber. „Ein bisschen nur.“
Frau Walscky nickte. „Es ist das Heimweh“, fragte sie leise. „Nicht wahr?“
Das Mädchen nickte, dann senkte es den Blick wieder aufs Wasser.
„Auch ein bisschen Heimweh kann weh tun“, sagte Frau Walscky.
„Wenn ich die Augen schließe, fühlt es sich an wie daheim am großen Fluss. Das ist schön.“
Mit leiser Stimme begann das Mädchen zu erzählen. Vom Leben am Fluss in der russischen Heimat, von der Familie, der Schule, den Hunden und von der Umsiedlung mit den Eltern. Die Großeltern waren nicht mitgekommen und das Mädchen vermisste sie sehr.
Frau Walscky verstand das Kind gut. Sehr gut sogar.
„Ich habe als kleines Mädchen auch in Russland gelebt. Am Meer oben an der Grenze zu Estland“, erzählte sie. „Als der Krieg kam, mussten wir fliehen. Als Deutsche waren wir in der Heimat nicht mehr gern gesehen. Und seither habe ich Heimweh. Vor allem nachts, wenn mich die Träume immer wieder nach Hause entführen. Schön ist das Träumen, nur das Aufwachen tut oft weh. Sehr weh.“
Jetzt war es das Mädchen, das lächelte. Es griff nach Frau Walsckys Hand, drückte sie.
„Aber es ist auch gut“, tröstete es die alte Frau. „Ich mag meine Träume gut leiden. Sie bringen mich heim und das fühlt sich richtig an. Und schön. Findest du nicht auch?“
Frau Walsckys Augen leuchteten.
Dann begann sie, ganz leise, das alte Lied zu singen:
„Schlaf mein Kind, ich wieg dich leise. Bajuschki, baju. Singe die Kosakenweise. Bajuschki baju. Draußen rufen fremde Reiter durch die Nacht sich zu. Schlaf, mein Kind, sie reiten weiter. Bajuschki, baju…“
© Elke Bräunling
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Zweite kürzere Fassung in einfacher Sprache
Das Lied aus der Heimat
Geschichte in leichter Sprache
Am Brunnen in der Stadt sitzt ein Mädchen. Es sitzt ganz still. Nur die Finger bewegen sich. Sie spielen mit dem Wasser.
Dabei singt das Mädchen ein Lied. Es klingt leise und schön. Ein bisschen traurig auch:
„Schlaf, mein Kind, ich wieg dich leise. Bajuschki, baju. Singe die Kosakenweise. Bajuschki, baju. Draußen rufen fremde Reiter durch die Nacht sich zu. Schlaf, mein Kind, sie reiten weiter. Bajuschki, baju …“
Frau Walscky sitzt auf der Bank am Brunnen. Sie kommt oft hierher. Sie hört dem Wasser gern zu. Jetzt lauscht sie dem Lied. Sie erschrickt ein wenig.
„Dieses Lied kenne ich“, sagt sie. „Unsere Großmutter hat es früher gesungen. Es ist sehr schön.“
Sie schaut das Mädchen an. „Bist du traurig?“, fragt sie.
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Dann sagt es: „Ein bisschen.“
Frau Walscky nickt. „Du hast Heimweh, nicht wahr?“
Das Mädchen nickt. „Ein bisschen“, antwortet es.
Dann schaut es wieder ins Wasser.
„Auch ein bisschen Heimweh kann weh tun“, sagt Frau Walscky.
Das Mädchen schließt die Augen. „Wenn ich die Augen schließe, denke ich an mein Zuhause. An den großen Fluss. Das ist schön.“
Leise erzählt es weiter: Von seiner Familie. Vom Fluss in der Heimat. Von der Schule. Von den Hunden. Vom Umzug. Von den Großeltern, die zurückgeblieben sind. Das Mädchen vermisst sie sehr.
Frau Walscky hört zu. Sie versteht das gut.
„Auch ich habe Heimweh“, erzählt sie. „Das Leben in meiner Kindheit war sehr schön. Dann kam der Krieg. Wir mussten fliehen, weil wir Deutsche waren. In Russland waren wir nicht mehr willkommen.“ Sie seufzt. „Seitdem träume ich oft von früher.“
Das Mädchen lächelt. Es nimmt Frau Walsckys Hand und drückt sie.
„Träume sind gut“, sagt das Mädchen. „Sie bringen uns nach Hause zurück. Das fühlt sich richtig an. Und schön. Findest du nicht auch?“
Frau Walscky nickt. Ihre Augen glänzen. Und sie singt das Lied noch einmal. Leise. Zufrieden.
„Schlaf, mein Kind, ich wieg dich leise. Bajuschki, baju. Singe die Kosakenweise. Bajuschki, baju. Draußen rufen fremde Reiter durch die Nacht sich zu. Schlaf, mein Kind, sie reiten weiter. Bajuschki, baju …“
© Elke Bräunling