Sein letzter Bleistift
Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Manche Gewohnheiten begleiten ein ganzes Leben
Wenn ich an meinen Urgroßvater Anton denke, sehe ich immer sein freundliches Gesicht mit den blitzenden blauen Augen, den geröteten Backen, dem schneeweißen Schnauzbart und der dunkelgrauen Baskenmütze vor mir. Und da war noch etwas, was er immer bei sich trug. Der Bleistiftstummel hinter seinem Ohr. Der musste sein. Immer. Selbst bei Familienfesten feierte sein Bleistift, es war natürlich immer ein anderer, noch nicht leer geschriebener, mit. Auch wenn er sich mit Freunden in der ‚Alten Krone‘ zu einem Glas Wein traf oder mit seinem Hund ‚Kingkong‘ wanderte oder im Garten arbeitete: der Bleistift war immer mit von der Partie.
„Man muss immer etwas zum Schreiben bei sich tragen. Das ist wichtiger als vieles andere. Nicht auszudenken, ich könnte die Worte, die mir begegnen, nicht gleich aufnotieren“, hatte er mir einmal erklärt. „Es täte mir leid um sie und ihr Verlust würde mich schmerzen.“
Einen Platz für seine Worte, ein Stück Papier oder Pappe oder einen Zeitungsrest zum Beschreiben, fand er übrigens immer. Es konnte auch mal ein Stein sein, ein Stück Holz, ein Blatt oder eine Birne. Egal. Wichtig war, dass sie Urgroßvaters Gedanken und Worte aufbewahrten und mit nach Hause brachten.
„Du wirst einmal noch dein Leben mit einem Bleistift hinter Ohr beenden“, hatten seine Kinder und Freunde oft im Scherz gesagt und Urgroßvater Anton pflegte dann lauthals zu lachen und mit einem schelmischen Grinsen hinzuzufügen:
„Ich bitte darum. Jeder Augenblick hat seine Worte und Dinge, und keines verdient es, als unwichtig angesehen oder gar vergessen zu werden. Auch nicht der letzte.“
Sein Wunsch ging übrigens in Erfüllung. Als er an einem sonnigen Herbsttag bei einem Nickerchen auf seiner Lieblingsbank unter dem Kirschbaum für immer einschlief, war sein einziger Begleiter in diesem Moment der Bleistiftstummel hinterm Ohr. Und wie er es sich gewünscht hätte, durfte dieser Stift ihn auch auf seine letzte Reise auf den Friedhof begleiten.
Es geht mir heute noch so, dass ich nicht nur an Urgroßvater denke, wenn ich vor seinem Grab stehe, sondern auch an den Bleistift, der zu seinem letzten Bleistift geworden war und der mit ihm hier nun ruhte. Dieser Gedanke tröstet mich immer sehr und ich notiere all die Worte, die mir dabei einfallen, mit dem Stift, den ich in diesem Augenblick hinter meinem Ohr trage in mein kleines Notizbuch, das mich in der Gesäßtasche meiner Hose hinten rechts immer begleitet.
© Elke Bräunling
Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause
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