Blüten der Erinnerung
Sommerliche Geschichte für Groß und Klein – Die bunten Farben eines Sommertages
Einmal legte ein kleines Mädchen eine himbeerfarbene Kleeblüte, eine sonnengelbe Habichtskrautblüte und ein himmelblaues Glockenblümchen in ein Buch. Die alte Marga, die einst Lehrerin im Dorf gewesen war und jeden Mittag zu Schulschluss vor dem Schulhaus auf der verschlissenen Holzbank saß, hatte es dem Mädchen am letzten Schultag vor den großen Ferien geschenkt. Ein Buch über Worte und Sätze und deren Aufbau. Ein Buch für die Ferien. Es sollte dem Mädchen, dem manchmal die Worte fehlten, das Wissen über die Sprache und deren Regeln vermitteln.
„Worte sind ein kostbares Gut“, hatte sie gesagt. „Vergiss das nie!“
Das Mädchen hatte genickt und gelächelt und an die Farben des Sommertages gedacht. Farben und Düfte, so kostbar und wertvoll wie Worte. Nach Lesen und Lernen stand ihm wenig der Sinn.
Und während es höflich den Worten der alten Frau lauschte, ließ es seine Blicke schweifen in das Blau des Sommerhimmels, in die Kronen der Linden, deren Blätter mit dem Licht der Sonnenstrahlen spielten, und in die Stauden der purpurfarbenen Levkojen, der roten Stockrosen und der cremeweißen Pfeffernelken.
Von den Farben dieses Sommertags hätte es der alten Lehrerin gerne erzählen wollen, doch es fand die Worte nicht. So wie die alte Marga die Farben nicht zu sehen vermochte.
„Lerne die Worte und ihre Bedeutung! Nutze das Buch!“
Damit hatte die alte Frau das Mädchen schließlich in die Freiheit des Sommers entlassen. Mit Ermahnungen und dem Buch, einer alten Grammatik.
Auf dem Heimweg pflückte das Mädchen auf einer Wiese die Kleeblüte, das Habichtskraut und die Glockenblume, und legte sie in das langweilige, graue Buch. Drei Blümchen mit dem Duft und den Farben des warmen Sommertages. Sie sollten das Buch heller, die Worte fröhlicher machen.
So dachte das kleine Mädchen, als es das Buch zuhause auf das Regal in seinem Zimmer legte … und dort vergaß. Da waren jene anderen, aufregenden Dinge in diesem Sommer, die interessanter und wichtiger waren als ein Buch mit staubtrockenen Worten. Und als die Familie wenig später das Haus und das Dorf verlassen und auf die Flucht vor dem Krieg gehen musste, landete das Buch mit den Farben des Sommers neben anderen Büchern, Bildern und Fotografien nach langer Reise in einer Truhe auf einem Dachboden.
Es dauerte viele Jahrzehnte, bis das Mädchen das Buch der alten Marga wieder in den Händen hielt. Es lächelte, als es die alte Grammatik entdeckte. Die Farben und Düfte jenes sorglosen Sommertages wurden lebendig und die stummen Worte setzten sich zu einer Melodie zusammen. Einer bunten Melodie der Erinnerungen.
Viele Worte fielen dem Mädchen, das nun selbst eine alte Frau war, heute dazu ein. Doch es schwieg. Die Worte, die der alten Marga damals so wichtig gewesen waren, interessierten auch jetzt nicht. Was zählte, waren die Erinnerungen an jenen Sommer, den die welken Blüten der Kleeblume, des Habichtskrauts und der Glockenblume nach so langer Zeit noch einmal zurückbrachten.
© Elke Bräunling
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Sommertag, Bildquelle © Hans/pixabay
Schade, dass die Worte dem Mädchen selbst dann nicht wichtig waren, als sie eine alte Frau war… Ich kann mir das irgendwie gar nicht vorstellen…
Warum nicht, Margot? Blumenduft, die alte Heimat und Erinnerungen versus Lehrerworte und Grammatikregeln? Da müsste ich auch nicht lange überlegen.
Lieber Gruß zu dir
Ele
Ach, weil ich dann doch unverzüglich daran gehen würde, all das, den Blumenduft, die alte Heimat und die Erinnerungen in Worte zu fassen. 😉
Aber so gesehen hast du natürlich vollkommen recht, liebe Ele, die drei genannten wundervollen Dinge sind natürlich Lehrerworten und Grammatikregeln vorzuziehen. 😀
Herzliche Grüße!