Das leere Blatt
Geschichte zum Vorlesen – Vom Schreiben und von den Nöten eines Schriftstellers
Seit drei Stunden fast kaute der Fremde auf dem Stift und starrte auf das leere Blatt Papier, das vor ihm neben einer Tasse Kaffee und einem Glas Mineralwasser lag. Es war schon der dritte Kaffee und das dritte Wasser, das er bei der Wirtin des Gasthofes zur ‚Eiligen Post‘ bestellt hatte. „Einen Kaffee, ein Mineralwasser und eine große Portion Ruhe zum Schreiben“ hatte er geordert, nachdem er mit Eilschritten über den Dorfplatz geschritten war und sich an einem der Wirtshaustische unter dem Schattendach der Kastanienbäume niedergelassen hatte. Er hatte den Kaffee bekommen, das Wasser und die Ruhe. Von allem gab es im Überfluss in dem Ort abseits der Touristenstraßen. Das erste Glas Mineralwasser hatte er ohne abzusetzen geleert. Dem folgte der Kaffee, den er mit genießerischen Schlucken trank, wobei er nach jedem Schluck den Stift zwischen den Fingern drehte, zum Schreiben ansetzte, stoppte und sich wieder dem Kaffee zuwandte.
„Das Gleiche noch einmal, bitte!“, hatte er der Wirtin zugerufen und, verlegen fast, gelächelt. Und nun hatte er, wie gesagt, bereits auch schon die dritte Tasse und das dritte Glas geleert – und leer war noch immer auch das weiße Blatt Papier.
Der Mann sah sich um. Eine friedvolle Stille umgab ihn an diesem Spätsommer-Vormittag, die nur vom Tschilpen der Spatzen und vom leisen, schwatzenden Zwitschern der Mehlschwalben, die in den Ställen ihre Nester hatten, unterbrochen wurde.
„Perfekt“, murmelte er. „Der absolut perfekte Ort, um in Ruhe arbeiten zu können.“
Er starrte wieder auf das leere weiße Blatt Papier, fuhr sich mit einer hilflosen Geste durch das wirre, lange Haar, schüttelte den Kopf. „Zu perfekt.“
Er starrte über den idyllischen Dorfplatz, der, gepflegt und mit Blumen geschmückt, wie leergefegt vor ihm lag. Es war, als hätten die Bewohner des Ortes bei seinem Eintreffen die Flucht ergriffen.
Er schüttelte wieder den Kopf, grinste. Vor den Menschen und ihrer lauten, nervenaufreibenden Hektik, die sie verbreiteten, war er hierher aufs Land geflohen. Eine Flucht, um endlich wieder schreiben zu können. In Ruhe und Abgeschiedenheit. Und nun saß er in diesem gottverlassenen Nest und vermisste das betriebsame, nervig lärmende Leben der Stadt.
Hier wie dort war es das gleiche: das leere weiße Blatt in dem Skizzenbuch mit den vielen weiteren leeren weißen Blättern blieb leer und weiß.
Wie einen Schatz trug er es mit sich auf der Suche nach dem geeigneten Ort zum Schreiben, so es ihn denn für ihn überhaupt noch gab. Ein leerer weißer Schatz. Ein Symbol seiner vergeblichen glücklosen Suche nach den Worten, die er in den Wirren der von Kummer, Sorgen und Anfeindungen geprägten letzten Jahre verloren zu haben glaubte. Es schien, als weigerte sich das Blatt, mit Buchstaben beschrieben zu werden.
„Verdammt!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wenn ich nur endlich wieder schreiben könnte!“
Der Schlag war heftig. Die Kaffeetasse klirrte, das Wasserglas hüpfte ein paar Zentimeter über den Tisch, das Blatt, das heilige, unberührte, arrogante Ding hob sich wie von Zauberhand dirigiert und schwebte im Nachbeben der erzitternden Tischplatte über die Kante zu Boden. Dort lag es, gebettet im ländlichen Staub, bar jeder Reinheit und Vollkommenheit. Ein unbeschriebenes, nicht mehr ganz weißes Blatt, dem man die Spuren des Daseins nun deutlich ansah. Endlich!
Er starrte das Blatt an. Er starrte lange.
„Vollkommenheit? Was für ein Anspruch!“
Er spürte, wie die Langeweile ihn zu überwältigen drohte, und stockte.
War es das? Lag hier die Wurzel seines Problems im Ringen mit den Worten?
Er bückte sich nach dem Blatt, hob es auf, faltete es mit sicheren, akkuraten Griffen zu einem Papierflieger – und schickte es mit einem Schwung fröhlicher Leichtigkeit in die Luft weit über den Dorfplatz.
Übermütig fast rannte er ihm hinterher, hechtete zu seinem Wagen, griff nach dem Notebook, eilte zum Wirtshaus zurück, bestellte einen Schweinebraten mit Semmelknödeln und ein Weißbier, öffnete das Notebook und begann, hastig in die Tasten zu tippen. Die Buchstaben sprangen ihm nur so aus den Fingerspitzen, wie immer, wenn er die ersten Worte wieder fand.
© Elke Bräunling
Vom Schreiben, Bildquelle © rawpixel/pixabay
Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause
Das kenne ich so gut. Es ist, als hätte man mit eigener Hand einen Damm im Inneren errichtet, hinter dem sich die Worte und Ideen stauen, aber nicht fließen können. Und dann, irgendwie, bricht dieser Damm, und die Fluten ergießen sich so stark, daß man mit dem Schreiben kaum mehr nachkommt. 😉
Liebe Grüße!
Und das ist dann der Flow, und der kann prickelnder sein als alles, was man sich so unter prickelnd im Leben vorstellt. 😉 Man fühlt sich großartig und sehr sehr glücklich. Du kennst es ja.
Das Gegenteil hingegen ist Hölle.
Lieber Gruß
Elke