Oma Ilse muss zum Arzt
Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Der Arzt muss doch zuhören, oder?
„Ich werde dann heute mal zum Doktor gehen“, sagte Oma Ilse beim Frühstück.
„Schon wieder?“, fragte Mama. „Da warst du doch erst vorgestern.“
„Ich, äh …“, versuchte es Oma Ilse, doch Mama war mit den Gedanken schon wieder ganz woanders und klickte in ihrem Terminkalender auf dem Smartphone herum.
Oma Ilse seufzte.
„Geht es dir wieder schlechter?“, erkundigte sich Papa. Er blickte kurz von seiner Zeitungslektüre auf, sah Oma für einen Moment an, murmelte „Das wird schon wieder“, streichelte ihr über die Wange und las weiter.
„Da war heute Nacht dieses Stechen im …“, wollte Oma Ilse ihm erklären, doch Papa winkte ab.
„Nachher, Mutter, ich muss dies hier gerade eben zu Ende lesen. Das brauche ich fürs Büro.“
Oma Ilse seufzte noch lauter.
Mama und Papa seufzten nun auch, verstohlen.
„Ich wollte auch nur…“, sagte Oma Ilse dann und ihre Stimme klang ein wenig mitgenommen nun.
Anna, die versuchte, die Rechenaufgabe für die Schule doch noch zu lösen, stopfte sich einen Löffel Müsli in den Mund und warf dann einen kurzen Blick zu ihrer Großmutter hinüber.
„Ich finde, du siehst gar nicht krank aus“, nuschelte sie. „Hast du Schmerzen?“
„Und wie!“ Oma Ilse stand auf und deutete auf ihre linke Hüfte. „Hier! Es sticht so komisch und ich …“
Anna aber war längst wieder in ihr Schulheft vertieft.
„Nachher, Oma! Erzähle es mir nachher. Oder weißt du, wie man das mit den Prozenten rechnet.“
„Nein“, sagte Oma Ilse, die sehr wohl wusste, wie man diese Rechenaufgaben lösen konnte. Ein Blick auf das Rechenheft vorhin hatte genügt. „Ich kenne mich damit nicht aus.“
Sie war gekränkt, weil ihr wieder einmal niemand zuhörte. Wie konnten sie alle so gleichgültig sein? Es war aber auch so ungemütlich beim Frühstück an diesem Morgen. Keiner hörte hier mehr dem anderen zu und ihr schon gar nicht. Wie undankbar sie doch waren!
Noch immer im Stehen leerte sie ihre Kaffeetasse, dann griff sie nach ihrer Handtasche und ging zur Tür.
„Ich geh dann mal!“, sagte sie. „Macht’s gut heute!“
„Du auch!“, antworteten Mama, Papa und Anna. Sie blickten dabei nicht einmal auf.
So war das halt.
Oma Ilse beeilte sich. Der Doktor, der würde aufblicken und sie ansehen und mit ihr sprechen. Er würde ihr auch zuhören, so wie es das immer tat, wenn sie ihn wie fast immer in der letzten Zeit alle zwei Tage aufsuchte. Der war ein feiner Mensch und wusste, was sich gehörte. Ja. Alles war gut.
Oma Ilse seufzte nicht mehr. Sie lächelte nun.
© Elke Bräunling
Warten auf den Arzt, Bildquelle © sabinevanerp/pixabay
Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause
Hach, ja, das kenne ich auch… :-/ Ich will etwas erzählen – und keiner hört so richtig zu…
Die haben alle “keine” Zeit mehr … meinen sie zumindest.
Ich lebe jetzt seit drei Jahren hier im kleinen Walddorf und kenne fast alle inkl. ihrer Familien und Lebensgeschichten etc…
Frage mal, was sie von mir wissen? Nicht viel mehr als das, was man ergoogeln kann. Es ist mir auch recht, dennoch tut es manchmal doch weh, wenn man spürt, dass so gar keiner mal ein Interesse zeigt. Da stellt man dann doch recht schnell diverse Sinnfragen.
Nachdenklich grüßt
Ele
<3
Viele ältere Menschen (besonders wenn sie alleine leben) brauchen ihre Arztbesuche, denn für sie ist das eine Art der Kommunikation, die ihnen ganz persönlich gewidmet ist. Ihnen wird Gehör geschenkt und ihre Probleme, Ängste und Schmerzen werden ernst genommen. Ich denke, dies ist eine Geschichte mitten aus dem Leben.
LG
Astrid
Danke, liebe Astrid. Genau das war der Anlass, diese Geschichte zu schreiben. Diese Unfähigkt im Alltag, nein, im Leben überhaupt, einander nicht mehr zuhören zu können. Der Arzt, der muss zuhören! … Es … ist … so … traurig. Findest du nicht?
Lieber Gruß zu dir
Ele