Grete will ein Sommerkleid nähen

Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Vom Erinnern und Vergessen und von Dingen, die sich ändern

Grete schlenderte mit ihrer Tochter durchs Kaufhaus. Sie landeten in der Stoffabteilung, besser gesagt, Tochter Ruth dirigierte ihre Mutter dorthin. Grete liebte es zu nähen und sie liebte Stoffe.
„Ich möchte Fanny ein Kleid nähen“, sagte sie und ließ einen fröhlich bunten Chiffonstoff durch ihre Hände gleiten. „Ein Kleid für den späten Nachmittag zur Teezeit.“
Teezeit? Fanny? Ihre Tochter horchte auf. Wovon sprach Grete da?
„Weißt du“, fuhr ihre Mutter da schon fort. „Fannys Eltern haben nicht so viel Geld wie wir. Ihr Vater ist im Krieg geblieben und ihre Mutter muss nun ganz allein für die drei Kinder sorgen.“
Ruth atmete tief durch. „Wie alt ist Fanny?“, fragte sie vorsichtig.
„Aber das weißt du doch!“ Empört starrte Grete ihre Tochter an. „Was bist du aber auch vergesslich!“
Das war das Stichwort! Vergesslich. Ruth war schon öfter aufgefallen, dass ihre Mutter manchmal in einer ganz anderen Zeit lebte. Sie redete auch viel von früher. Heute war es Fanny, an die sie sich erinnerte. Das musste lange her sein, denn Ruth kannte keine Fanny.
„Schau nur, wie schön die Farben sind!“, rief Grete begeistert. „Meinst du, ich könnte diesen Stoff kaufen? Oder ist er zu teuer?“
IMG_1656 Wie mechanisch schüttelte Ruth den Kopf. Gretes Frage hatte sie gerade nicht erreicht. Zu sehr war sie von diesem Gedanken, der ihr Angst machte, erfasst. Sie hatte Angst. ‚Nicht Mama‘, dachte sie. ‚Bitte nicht Mama‘.
„Ach nein“, sagte Grete da. „Du machst dir ja gar nichts aus Kleidern, wo du doch immer nur Hosen trägst. Es ist doch so, Ruth, oder?“
„Stimmt, Mama.“ Ruth versuchte, die trüben Gedanken zur Seite zu wischen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Wahrscheinlich war es auch ganz normal, dass ältere Menschen oft in der Vergangenheit lebten. Es war ihr doch auch schon passiert, dass sie sich absolut nicht an einen Namen erinnern konnte und häufig andere Dinge vergaß.
„Weißt du was, Mama? Wir kaufen den Stoff doch und du nähst mir ein schönes Sommerkleid. Machst du das?“
Grete strahlte. „Aber …“, versuchte sie einzuwenden.
„Kein Aber. Dinge ändern sich“, sagte Ruth und für sich selbst fügte sie hinzu: „Wichtig ist nur, dass wir uns haben und das hat Bestand.“

© Elke Bräunling & Regina Meier zu Verl


 

 

 

 

 

 

Vom Vergessen, Bildquelle© Julim/pixabay

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