Erinnerung an einen Engel

Adventsgeschichte für Groß und Klein – Engel müssen nicht immer Flügel haben

An einem grauen Novembertag besuchen Pia und Pit mit Opa wieder einmal Großtante Luise in ihrem kleinen Dorf hinter dem großen Wald. Bald ist Weihnachten und die Geschwister wünschen sich einen echten, selbst gebundenen Adventskranz. Und Großtante Luise ist die beste Kranzbinderin auf der Welt. Das sagt jedenfalls Opa. Aber irgendwie ist die Großtante heute anders als sonst. Still ist sie und irgendwie sehr nachdenklich.
„Freust du dich nicht auf Weihnachten?“, fragt Pia.
„Aber ja!“, antwortet die Großtante. „Ich muss nur so sehr an den Engel denken.“
„Welcher Engel?“, fragt Pit.
„Ein Weihnachtsengel vielleicht?“ Vor Aufregung röten sich Pias Wangen.
Die Großtante lächelt. „Vaters Engel“, sagt sie und wendet sich an Opa. „Erinnerst du dich noch an ihn?“
Opa nickt. „Aber ja. Immer wieder haben deine Eltern von ihm gesprochen. Besonders in der Adventszeit. … Er war ja auch ein ganz besonderer Engel.“
Nun klingt auch Opas Stimme leise und nachdenklich. Sehr nachdenklich sogar.
„Was ist das für ein Engel?“, fragt Pia wieder.
„Ein Schutzengel“, erklärt Opa. „Der Schutzengel unserer Familie.“
Die Großtante nickt. „Ohne ihn wäre unser Leben ganz anders verlaufen.“
Das klingt aufregend
„Wen hat der Engel beschützt?“, fragt Pit.
„Meinen Vater“, antwortet Großtante Luise. „Er hat ihm das Leben gerettet. Nein, ich muss sagen, sie hat ihm das Leben gerettet. Der Engel war nämlich eine Frau.“
„Eine echte Frau oder eine Engelsfrau?“, fragt Pia.
„Gibt es weibliche Engel?“, wundert sich Pit.
„Engel können alles sein“, erklärt die Großtante. Dann erzählt sie Pia und Pit die Geschichte von ihrem Vater, der eines Tages einen Engel traf:
„Es war in der Weihnachtszeit im Jahr 1944 kurz vor Ende des großen Krieges. Mein Vater war als Soldat auf der Flucht in den Westen. Der Winter war hart und schneereich. Beinahe hätte Vater in den kargen, frostigen Weiten des ostpreußischen Winters sein Leben verloren. Auf der Suche nach einer schützenden Unterkunft für die Nacht kam er zu einem Gutshaus. Verlassen und dunkel ragte es vor ihm auf. Sollte er es wagen und das Haus betreten? Vorsichtig umrundete er es und näherte sich der hinteren Tür durch den Küchengarten. Und er hatte Glück. Die Tür zur Küche war nicht verschlossen. Als Vater die Küche vorsichtig betrat, empfing ihn ein wärmendes Feuer und auf dem Herd stand neben einer Kanne mit heißem Minztee ein Topf mit köstlich duftender, heißer Suppe. Kartoffelsuppe mit Zwiebeln, Kräutern, Möhren und Speckstückchen. Vater zögerte. Sein Magen knurrte. Viele Tage hatte er nichts Warmes mehr gegessen … und der Duft der Suppe lockte.
‚Greifen Sie nur zu!‘, sagte plötzlich eine Stimme. ‚Es ist genügend da.‘
Ihr könnt euch vorstellen, wie sehr mein Vater erschrak. Waren es Feinde, die hier lauerten? War es eine Falle? …“
Die Großtante macht eine Pause, steht auf, geht zu dem kleinen Sekretär, in dem sie ihre Fotoalben aufbewahrt und zieht ein Foto hervor.
Pia und Pit können die Spannung nicht länger aushalten.
„Und?“, ruft Pit aufgeregt. „Waren es die bösen Feinde?“
„Haben sie deinem Papa weh getan?“, fragt Pia. Sie ist blass geworden.
Die Großtante lächelt.
„Nein, es waren keine Feinde. Es war Vaters Engel.“
„Ein Engel, der reden kann und Suppe kocht?“
Die Großtante nickt. „Es war die alte Gräfin von Sellin, die Herrin des Hauses. Sie hatte sich geweigert, mit ihrer Familie und den Gutsleuten auf die große Flucht in den Westen zu gehen. ‚Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Und wer weiß, wem mein Bleiben hier noch von Nutzen sein kann‘, hatte sie gesagt.“
Wieder macht die Großtante eine Pause. Eine kleine nur.
„Meinem Vater hat ihr Bleiben das Leben gerettet. Und anderen Flüchtlingen auch.“
„Boah!“ Mit weit aufgerissenen Augen starren die Geschwister die Großtante an.
„Und dann ist dein Vater weiter gezogen und hat die alte Gräfin alleine gelassen?“, fragt Pia.
„Sie haben das Weihnachtsfest miteinander gefeiert, die Gräfin, mein Vater und neue Flüchtlinge, die im Gutshaus Unterschlupf fanden. Ja, und dann ist Vater weiter gezogen. Ein Glück. Die Front war nämlich inzwischen bedrohlich nah gekommen.“
„Und die Gräfin?“
„Keiner weiß, was aus ihr geworden ist. Vater hat viele Jahre nach ihr gesucht. Als die Grenzen geöffnet wurden, ist er sogar nach Ostpreußen gereist. Das Guthaus Sellin aber hat es nicht mehr gegeben. Es ist niedergebrannt in den letzten Wirren des Krieges. Keiner wusste genau, was damals geschehen war. Nur noch ein Berg verwitterter Steine war übrig geblieben. Und dieser Engel. Mein Vater fand ihn unter einer Rosenhecke im ehemaligen Küchengarten und hat ihn mitgebracht.“
Die Großtante legt ein Foto auf den Tisch. Das Foto von einem kleinen Engel, der mit verschränkten Armen auf einem Stein sitzt.
„Er ist schön, der Engel“, sagt Pia. „Wie ein Weihnachtsengel sieht er aus.“
„Und er erinnert alle an die alte Gräfin, die auch ein Engel war“, meint Pit.
„Und immer zur Weihnachtzeit haben wir ihn besucht und ihm gedankt“, sagt Opa. „Dein Vater hat ihm bei der alten Kapelle im Wald einen neuen Platz gegeben. Ich erinnere mich gut an ihn.“
Die Großtante nickt. Sie hat jetzt wieder diesen nachdenklichen Blick.
„Und das ist mein Problem“, sagt sie mit kläglicher Stimme. „Lange habe ich ihn nicht mehr besucht, und nun kann ich ihn nicht mehr finden. Was, wenn er verschwunden ist, der Weihnachtsengel, der auch ein Schutzengel ist?“
Opa stand auf. „Wir suchen ihn und wir werden ihn finden. Jetzt gleich. Engel gehen nicht verloren.“
Und wenig später sind Pia, Pit, Opa und die Großtante im Wald unterwegs auf dem Weg, der zur Kapelle führt.

© Elke Bräunling

Die Fortsetzung zu dieser Geschichte findest du hier: Engel gehen nicht verloren

Diese (fast wahre) Geschichte hat ihre Fortsetzung. Sie lautet “Engel gehen nicht verloren und ist in dem Buch “OMAS ADVENTSGESCHICHTEN” zu finden.


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Erinnerungen, Bildquelle © capri23auto/pixabay

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