Worte auf der Goldwaage

Erzählung aus der Gegenwart – Vom Mut, auch unbequeme Gedanken auszusprechen

„Ich sage nichts“, sagte Martha.
„Wie das?“, erkundigte sich die alte Mali. „Du redest doch sonst immer und auch oft viel zu viel.“
„Eben drum. Es hört mir ja keiner zu.“ Marthas Miene war trotzig.
„Haha! Hast du heute deinen empfindlichen Tag oder hat dir jemand die Suppe versalzen?“
„Ach!“ Martha winkte ab. „Ich habe manchmal das Gefühl, ich rede gegen Wände. Außerdem, wer hat heutzutage noch den Mut zu sagen, was er denkt? Was er WIRKLICH denkt!“
Dieses WIRKLICH stieß sie laut und wütend aus.
Mali lachte nicht mehr. „Ich verstehe dich, aber sag, war es nicht schon immer so, dass man die wahren Gedanken nicht ausspricht aus Angst, jemanden zu verletzen?“
„Das stimmt“, meinte Martha. „Aber heute kann doch fast jedes Thema verletzend sein, weil es sich immer jemand findet, der sich verletzt fühlt oder verärgert oder der meint, es besser wissen zu können. Ach, es ist verwirrend!“ Sie seufzte.
„Und warum willst du diesen Trend, überall nach Verletzungen zu suchen, mitmachen? Überlege: Was gibt es überhaupt, das nicht irgendjemand aus irgendwelchen Gründen stören könnte? So betrachtet darfst du nicht einmal mehr über das Wetter sprechen. Ha!“ Die Mali redete sich in Rage. „Das ist doch alles Unsinn und dient nur dazu, die Leute zu spalten in Groß oder Klein, Schwarz oder Weiß, Schön oder Hässlich, Deutsch oder Nichtdeutsch, Ost oder West, Dumm oder Klug, Gläubig oder ungläubig oder Wasweißichnoch? Das ist Politik, meine Liebe, und wenn du mich fragst, so ist es keine gute.“
„Äh!“ Martha wusste so schnell keine Antwort. Dass die Mali so gescheit war, hätte sie nun gerade nicht gedacht. Eigentlich war die Nachbarin sonst eher schweigsam. Aber ihr das zu sagen, wäre auch wieder verletzend. Ach, es war kompliziert! Sie seufzte.
„Auch Gedanken können verletzen, und deine kann ich dir von der Stirn ablesen“, sagte die Mali da und lachte. „Dazu brauche ich keinen Chip, denn den wollen einige der Leute, die sich im Hintergrund all diesen Unsinn ausdenken, auch haben.“
„Chip?“
„Jeder Mensch soll einen Chip in den Kopf eingepflanzt bekommen, damit man ihn mit den richtigen Themen und Werbungen füttern kann und damit er nicht mehr selbst denken muss.“
Jetzt lachte Martha. So einen Unsinn hatte sie noch nie gehört und nein, das würde sie auch nie ernst nehmen. Das war doch nur dummes Gerede!
„Nur über meine Leiche!“, gluckste sie. „Dafür müssen sie sich andere Dumme suchen. In meinen Kopf guckt keiner und was ich denke, ist alleine meine Sache.“
„Gut gebrüllt, Löwe!“ Die Mali schlug ihr bekräftigend auf die Schulter, doch mittendrin hielt sie inne. „So gesehen haben sie längst einen Teil von deinen Gedanken in Besitz genommen, alleine schon deshalb, dass du über all diesen Unsinn überhaupt nachgrübelst und dir den Mund verbieten lässt.“
„Keiner macht das mit mir. Keiner. Hörst du?“ Martha lachte nicht mehr, nein, ein bisschen zornig war sie nun. „Ich werde mein Hirn und meine Gedanken verteidigen, meinetwegen sogar mit Pech und Schwefel wie in diesem Märchen, dieser Frau Holle.“
Davon aber ließ sich die Mali nicht einschüchtern.
„So!“, sagte sie nur. „Dann denk mal über all das nach! Ich tue es auch!“
Martha nickte. Ja, sie würde nachdenken und künftig besser aufpassen, wer und was sich in ihre Gedanken schmuggelte. Sie würde auch in Zukunft nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, sondern mit Herzenswärme und Verstand das aussprechen, was sie bewegte. Und sollte sich jemand verletzt, gekränkt oder beleidigt fühlen, konnte man darüber sprechen. Dafür waren die Worte da.

© Elke Bräunling

Auch hier philosophiert die Mali, dieses Mal über das Wetter:
Wetterkapriolen und ein Tanz auf dem Vulkan

Worte, Bildquelle © suju-foto/pixabay

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