Die Leseratte und das Leben

Erzählung – Vom Lesen, vom Leben und den Erinnerungen

Therese nutzte die dunkleren Tage, um ausgiebig zu lesen. Im Sommer hatte sie dafür nur wenig Zeit, da ging der Garten vor und die Arbeit an der frischen Luft. In der kälteren Jahreszeit begnügte sie sich mit kurzen Spaziergängen. In die weite Welt reiste sie immer lieber nur noch in ihren Büchern. Schön war das!
Sie konnte die Menschen, die ihre freie Zeit vor dem Fernseher oder bei Computerspielen verbrachten, nicht verstehen. Welche Welten, welche Abenteuer blieben ihnen verschlossen! Ja, was war ein Leben ohne die Bücher und die Fantasie? Nichts, gar nichts ersetzte die Bilder, die beim Lesen im Kopf entstanden.
Manchmal nahm sich Therese vor, eines der älteren Bücher, die sie immer noch liebte, noch einmal zu lesen. Dazu kam sie aber gar nicht, denn so viele wunderbare neue Romane warteten bereits auf sie und es machte ihr manchmal Angst, dass ihr Leben dafür zu kurz war.
„Was für ein Angebot an wundervoller Lektüre! Fast stresst es mich ein bisschen“, murmelte sie nun. „Dieses Zuviel tut nicht gut.“
Ihre Hände zitterten, als sie den Ebookreader, den sie neuerdings zum Lesen mehr schätzte als schwere, gebundene Bücher, einschaltete.
Eine Meldung erschien auf dem Display „Laden Sie den Akku auf!“. Schon wieder? Schade. Gerade jetzt hatte sie sich so auf das neue Buch gefreut.
Sie schaltete den Reader wieder aus und hängte ihn ans Ladegerät. Dann holte sie sich doch eines der Bücher aus ihrem Bücherregal. Sie lächelte, als die das alte Lesezeichen fand. Es war ein Herbstblatt, das sie damals getrocknet hatte. Vorsichtig, um es nicht zu zerstören, nahm sie das Blatt und betrachtete es. Seine Haut hatte Risse bekommen und die zarten geröteten Adern stachen hervor, doch sie hielten das Blatt noch immer zusammen.
„Du liebes altes Ding!“, murmelte sie. „Ganz vergessen hatte ich dich, nein, eigentlich doch nicht. Der Tag, an dem ich dich dort unter dem Gingkobaum gefunden hatte, wird immer in meiner Erinnerung bleiben. Danke, du Blatt!“
Sie schloss die Augen und sah sofort Kurts Gesicht vor ihrem inneren Auge. So lange schon hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Was er wohl machte? Ob er sie längst vergessen hatte?
Therese nahm sich vor, genau das in Erfahrung zu bringen. Vorsichtig legte sie das Blatt zurück in das Buch. Doch sie las nun nicht mehr. Die Erinnerungen und Gedanken in ihrem Kopf schrieben ganz andere Worte. Es waren zärtliche, sehnsuchtsvolle, aber auch ängstliche Worte. Und da war auch die Stimme, die so lange geschwiegen hatte.
„Flieh nicht länger nur in die Welten, die dir deine Bücher schaffen!“, raunte sie ihr lockend zu. „Nimm dieses Blatt als Zeichen und verbringe dein Leben ein bisschen auch unter Menschen!“
Therese lächelte. Ja, das wollte sie tun, genau das. Leben … und lesen … und noch viel mehr.

© Elke Bräunling & Regina Meier zu Verl

Leseliebe, Bildquelle © voltamax/pixabay

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