Sehnsucht nach Großvater
Geschichte für Senioren zum Vorlesen – Vom Abschiednehmen und Vermissen
“Licht tröstet”, hatte Opa gesagt. “Und ich werde dir immer nahe sein. Vergiss das nie!”
Der Junge klammerte sich an diese Worte, besonders, wenn er traurig war oder sich alleine fühlte. Früher konnte er zu Opa gehen, wenn er Trost, Rat oder Hilfe suchte oder einfach nur reden wollte. Über alles, was ihn interessierte, was er lustig fand oder was er erlebt hatte. So schön war das! Der Junge hatte Opa über alles geliebt.
Nun war der Großvater tot. Seit zwei Monaten schon. Der Junge vermisste ihn sehr. So sehr, dass es ihm in der Brust schmerzte, wenn er an ihn dachte.
“Licht tröstet. Und ich werde dir immer nahe sein…”
Immer wieder sagte er sich Opas Worte vor, doch mit jedem Tag klangen sie ein bisschen leiser in seiner Erinnerung und der Großvater entfernte sich immer ein Stück weiter. Manchmal glaubte der Junge, sich nicht einmal mehr richtig an dessen Gesicht erinnern zu können. Würde er ihn eines Tages so sehr vergessen haben, dass nur noch ein paar Fotos und Gegenstände aus Opas Wohnung an ihn erinnerten?
Der Junge konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Er stand am Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Es war eine klare Nacht. Sterne funkelten, winkten ihm zu. Ob er auch da oben im Himmel war, der Großvater? Vielleicht konnte er ihn jetzt sehen, vielleicht lächelte er ihm zu?
“Ich will dich nicht vergessen”, flüsterte er. “Du sollst immer nahe bei mir sein.” Er nickte. “Und deshalb komme ich dir jetzt ein bisschen entgegen. Hörst du, Opa?”
Der Junge schloss das Fenster, zog sich Jeans, Schuhe, ein warmes Sweatshirt an und verließ leise die Wohnung. Er wusste, wohin er gehen musste.
“Ich werde dir immer nahe sein”, hatte Opa gesagt. Und vom tröstenden Licht hatte er gesprochen. Da gab es nur einen Ort hier. Der Ort, der dem Himmel am nächsten war. Der höchste Ort in der Umgebung. Ein Ort mit Licht.
Der Junge holte sein Fahrrad aus der Garage und radelte los.
Still und dunkel war es in den Straßen. Die Bewohner der kleinen Stadt schliefen. Der Junge traf nur ein paar Katzen auf dem Weg zum Hafen. Auch hier war es dunkel. Nur das Licht des Leuchtturms, das in kurzen Abständen aufblinkte, machte die Nacht ein wenig heller.
Der Junge trat schneller in die Pedale, dann hatte er den Leuchtturm, der die Küste, das Städtchen und das Hinterland überragte, erreicht. Der Zugang zum Turm war verschlossen, doch das machte nichts. Das Licht war da, und es tröstete. Morgen ganz früh würde er den Leuchtturmwärter bitten, dass er mit hinaufkommen dürfe, und dann, ja, dann würde er dem Himmel ganz nahe sein. Dem Himmel – und Großvater.
© Elke Bräunling
Sehnsucht, Bildquelle © Free-Photos/pixabay
Geschichte für Senioren zum Vorlesen, bei Veranstaltungen u. geselligem Beisammensein, im Seniorenheim und/oder Zuhause
Diese Geschichte ist so so schön, liebe Elke,
ich lasse mal die Tränen laufen, das tut so gut!
Danke
Regina
Ach, wie schön! Würde man doch immer etwas finden, was einen trösten kann….
LG von Rosie
Nein, nicht weinen. Hoffen und nach vorne schauen, hm?
Ich glaube, Rosie, es ist immer etwas da, und wenn es auch noch so klein ist, dass zum Trösten gefunden werden will …
Liebe Grüße
Elke
Klappt leider nicht immer – aber weinen tut auch mal gut, es reinigt und man sieht anschließend wieder etwas klarer.
Gute Nacht und liebe Grüße
Regina
Der Junge könnte ich sein,mein Opa war meine männliche Bezugsperson und natürlich viel zu früh (75) gegangen.Heute bin ich 75!! Gruß K.
Mir ging und geht es ähnlich wie dir … irgendwie steckt auch viel von mir und meinem Opa, der wichtigsten Person in meinem Leben, in dieser Geschichte. Er ist auch noch da, der Opa, obwohl er schon so lange tot ist. Aber er ist da und ich hoffe, er lebt auch in meinen Texten, deren Fundament er damals bereitet hatte, weiter.
Ganz lieben Dank für deinen Besuch
und liebe Grüße
Elke
Ich hatte eine Oma, die ich über alles geliebt habe und die mich sehr geliebt hat. Das ist eines der wertvollsten Geschenke in meinem Kinderleben gewesen, diese Liebe. Manchmal denke ich an ihre weiche haut und ihren Duft. Sie ist jetzt schon 8 Jahre Tod. Ich vermisse sie immer noch.
Ich kann dich gut verstehen, Magda. So gut! Dieses Vermissen tut manchmal richtig richtig weh.