Da müssen wir durch …
Nachdenkliche Schulgeschichte für Groß und Klein – Schule hat sich verändert und das Leben auch
Viel zu schnell waren die Sommerferien vergangen. Kaum hatten sie begonnen, schon waren sie wieder vorbei und alles ging von vorne los.
„Nun beginnt wieder der Ernst des Lebens“, hatte der alte Mann zu dem Nachbarjungen gesagt. „Freust du dich auf die Schule und auf deine Klassenkameraden? Ich war immer ganz aufgeregt, damals.“
„Hm!“ Der Junge zuckte mit den Schultern. Freute er sich? Eigentlich nicht. Früher war das anders gewesen. Da hatte er richtig Lampenfieber vor dem ersten Schultag und so richtig Lust auf all das Neue, die Bücher, Hefte, Stundenpläne, gehabt und er hatte es fast nicht abwarten können, einige Mitschüler wieder zu treffen. Dieses Mal aber war es nicht so.
„Nicht wirklich“, meinte er schließlich und senkte den Kopf.
„Warum nicht?“ Interessiert sah der alte Mann ihn an. „Hast du keine Lust mehr aufs Lernen?“
„Schon“, murmelte der Junge. „Aber es ist alles anders geworden, so komisch, so dunkel.“
„Dunkel?“
„Ja. So ein Dunkel, das man nicht sehen kann. Man spürt es nur. Da drinnen.“ Er klopfte sich auf die Brust, dort, wo sein Herz schlug.
„Ist es ein trauriges Dunkel?“, fragte der alte Mann teilnahmsvoll. „Eines, das Tränen in sich trägt?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Wuttränen sind es höchstens“, meinte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. „Wut auf all den doofen Kram, der alles so traurig und dunkel gemacht hat.“ Er stockte, dann brach es aus ihm heraus: „Ich habe keine Lust mehr, in der Schule eine Maske zu tragen. Sie ist doof und ich kriege kaum Luft. Mir schmerzt der Kopf und ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Noten sind viel schlechter geworden deshalb. Ich sehe auch nicht mehr, was die Leute in der Klasse wirklich denken, wenn sie etwas sagen. Das sieht man nicht mit den Masken, und meine Englischlehrerin würde ich ohne Maske erst gar nicht erkennen. Ich habe sie nie ohne gesehen. Das ist so blöd, blöd, blöd…“ Und mit jedem „blöd“ stampfte er mit dem Fuß auf.
„Ja, da stimme ich dir zu. Das ist wirklich blöd“, stimmte der alte Nachbar zu. Er überlegte fieberhaft. Was sollte er dem armen Jungen antworten. Die Worte, die ihm auf der Seele lagen und die ihm der Verstand verbot, oder die, die in dieser Situation geboten waren? Er zögerte.
„Und wie blöd!“ Florian unterbrach die entstandene Stille. Er grinste verlegen. „Aber da muss ich wohl durch, oder?“
„Ja, mein Junge. Da musst du durch. … Da müssen wir … alle durch.“
Der alte Mann wandte sich ab und murmelte: „Solange wir uns das noch gefallen lassen und mitmachen.“
Das sagte er nur leise, damit ihn keiner hören konnte. Und er ärgerte sich darüber.
© Elke Bräunling
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