Das verlorene Krönchen
Das verlorene Krönchen
Vorlesegeschichte mit einfacher Struktur für an Demenz erkrankte Menschen: Ein Verlust vor langer Zeit, das Erinnern und Versöhnen
Uroma Minchen bekommt ein Päckchen mit der Post. Sie staunt. Wer schickt ihr ein Päckchen? Sie hat nichts bestellt. Seltsam.
Das Päckchen ist nicht schwer. „Bergmann“ steht als Absender auf dem Adressfeld.
Uroma Minchen kennt niemanden, der Bergmann heißt. Und sie wünscht sich keine Pakete von Menschen, die sie nicht kennt.
Aber ihre Neugier ist doch groß. Vielleicht möchte sie jemand überraschen?
„Das wäre schön“, sagt sie. „Und ich möchte das nun wissen.“
Sie greift zu dem Päckchen, öffnet es. Vorsichtig tastet sie sich durch buntes Seidenpapier und entdeckt … ein kleines silbernes Krönchen.
Es ist blank poliert und glänzt hell im Sonnenlicht.
Ein Kinderkrönchen. Das Krönchen einer Prinzessin.
Uroma Minchen staunt. Ihr Herz schlägt schneller.
Dieses Krönchen ähnelt dem, das sie als kleines Mädchen besessen hatte. Acht Jahre alt ist sie damals gewesen. Zur Fastnacht war sie eine Prinzessin. Ihr Kleid war rot und silbern und sehr prächtig. Das Schönste aber war das silberne Krönchen. Darauf war sie besonders stolz – und ihre Freundinnen waren ein bisschen neidisch. Besonders Annemie.
Aber auf einmal war das Krönchen verschwunden. Jemand hatte es ihr beim Fastnachtsumzug einfach so vom Kopf gefegt. Es fiel auf den Boden und war weg.
Uroma Minchen, die eigentlich Marina heißt, hatte überall danach gesucht. Sie war traurig. Und auch ein bisschen wütend.
„Jemand hat mein Krönchen gestohlen“, klagte sie.
Ihre Freundin Annemie aber hatte gelacht. „Nein. Du hast nicht gut aufgepasst“, sagte sie. „Das ist einfach Pech!“
Aber Marina hat ihrer Freundin nicht geglaubt. Bald waren sie auch keine Freundinnen mehr.
Das ist jetzt über siebzig Jahre her.
Uroma Minchen nimmt das Krönchen in die Hand und betrachtet es sich genauer. Da entdeckt sie das kleines, eingravierte „M“. M für Marina.
„Es ist mein Krönchen!“, entfährt es ihr. „Meine Güte! Mein Krönchen!“
Sie ist nun so aufgeregt, dass sie sich setzen muss.
Erst viel später untersucht sie noch einmal das Päckchen.
Dort liegt noch eine Karte. Von Annemie.
„Verzeih mir, liebe Marina!“, schreibt die alte Freundin. „Ich habe damals dein Krönchen genommen. Es war dumm von mir, doch ich wollte es unbedingt haben. Nun hat es mein ganzes Leben begleitet, und ich habe immer an dich gedacht. Es tut mir so leid. Meinst du, wir könnten uns einmal treffen und darüber reden? Liebe Grüße, deine Annemie.“
Uroma Minchen hält die Karte in der Hand und starrt auf die Karte. Ihre Hände zittern, doch dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Annemie … nach all den Jahren“, flüstert sie.
Sie denkt an die lange Zeit, die vergangen ist.
„Ja, wir sollten reden“, sagt sie leise. „Wir sollten uns treffen. Es ist nie zu spät.“
Dann holt sie ihr Smartphone und wählt Annemies Nummer auf der Karte.
© Elke Bräunling
Krönchen, Bildquelle © freelance fotographer bali/pixabay