“Oma Fenster” und das Winken

Wintergeschichte für Groß und Klein – Liebe Grüße und kleine Freuden machen den Tag heller

Jeden Tag saß sie am Fenster. Jeden Nachmittag bis zur Dämmerung, manchmal auch länger. Seit Monaten ging das schon so, vielleicht auch das schon länger. Für die Leute in der Straße gehörte sie dazu, die alte Frau mit dem Blümchenhut, und sie grüßten und winkten, wenn sie an ihrem Fenster vorbeigingen. Die Kinder winkten und kicherten, und die alte Dame lächelte und winkte zurück. Sie kannte jeden von ihnen und sie mochte sie alle.
„Sie sind sehr freundlich!“, dachte sie glücklich, während sie winkte.
„Sie ist wohl ein bisschen verrückt“, meinten die Leute.
„Sie ist sehr nett“, sagten die Kinder. „Oma Fenster“, so nannten sie sie „ist nett. Und das sind nicht alle Erwachsene.“
Und weil sie ihr eine Freude machen wollten, gingen sie oft viele Male am Tag an ihrem Fenster vorbei. Manchmal rannten sie auch, sprangen, tobten, hüpften, radelten, sprangen Seil und spielten Ball – und nie vergaßen sie das Winken. Und “Oma Fenster” vergaß nie, ihnen ein Lächeln zu schenken, wenn sie ihnen zurückwinkte. Es war ein würdevolles, fast majestätisches Winken, das sie auf die Straße hinunter sandte, als sei sie eine Königin, die die Parade abnahm. Witzig sah das aus und süß. Und das sagten manche Leute auch. Sie ist süß, die alte Nachbarin. Freundlich, witzig, süß.
Der Herbst kam und die Zeit der hellen Nachmittage verabschiedete sich. Immer früher wurde es dunkel und im spärlichen Licht der Straßenlampen konnte “Oma Fenster” nicht mehr jeden, der vorüber ging, sehen. Manchmal nahm sie nur schemenhafte Schatten wahr. Schatten, die winkten.
Doch auch die wurden rarer. Man war wenig unterwegs in jenen kalten, dunklen Tagen und oft vergaß man auch, zum Fenster der alten Dame hochzublicken. Da war keiner mehr, der „Hallo, Oma Fenster!“ zu ihr herauf rief.
Das machte sie traurig und die dunkle Zeit war für sie noch dunkler geworden.
Dann war auf einmal dieses kleine Mädchen mit den hellen, langen Haaren und dem weißen Mäntelchen, das Abend für Abend nun an ihrem Fenster vorbei spazierte, ein paar Atemzüge lang stehen blieb, winkte und weiterging. Ein Gehen, das einem zarten Schweben glich.
„Wie ein Engelchen“, sagte “Oma Fenster” einmal und sie spürte, wie es warm um ihr Herz wurde. „Mein Engelchen.“
Und das „Engelchen“ erwärmte ihr Herz jeden Tag in jenem langen, kalten, dunklen Winter, bis es im Lichte eines hellen Frühlingsabends mit einem langen, fröhlichen Winken wieder verschwand.

© Elke Bräunling


“Oma Fenster”?, Bildquelle © StockSnap/pixabay

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