Alte Liebe und ein Baum im Herbst

Herbstgeschichte für Senioren – Endlich verliert der Ahorn im Nachbargarten wieder sein Laub

Die einzige, die sich darüber freute, dass der Herbst immer näher auf den Winter zuschritt, war Uroma Lina. Jedem Blatt, das vom Ahorn im Nachbargarten herunter schwebte, jubelte sie hinterher.
Seltsam war das. Wo sie doch sonst das Grün und das Bunt in der Natur über alles liebte! Wir verstanden sie nicht. Wie konnte man sich über fallende Blätter und kahle Bäume freuen?
„Es ist ja nur dieser Baum“, verteidigte sie sich. „Der darf alle Blätter verlieren. Je schneller, desto besser.“
„Warum?“, fragte Papa. „Magst du den Ahorn nicht?“
„Wie kommst du auf diese Idee?“ Empört fast sah Uroma Lina Papa an. „Diesen Baum hat Friedel für mich gepflanzt. Eigens für mich. Hörst du?“
Friedel? Wer war Friedel? Wir wunderten uns noch mehr.
„Wer ist Friedel?“, fragte Papa da auch schon.
„Ein schöner Mann.“ Uroma Linas Blick wurde weich. Richtig verliebt sah sie auf einmal aus.
„Und warum hat dieser Friedel für dich einen Baum gepflanzt?“, fragte ich und musste kichern. „Der muss ja ganz schön doof gewesen sein.“
„Was fällt dir ein?“ Nun bedachte Uroma Lina auch mich mit einem ungnädigen Blick.
„Na ja“, verteidigte ich mich. „Der hatte deinen Baum aus Versehen auf dem Nachbargrundstück gepflanzt. Ganz schön verrückt, oder?“
„Gar nicht verrückt“, knurrte Uroma Lina. „Damals hatte es den hässlichen Zaun doch noch nicht gegeben! Das Grundstück mit den Gärten wurde von beiden Familien genutzt und das war sehr sehr schön. Und praktisch war es auch. Das hatten unsere Großeltern, also deine Urururgroßeltern, mit den Nachbarn vereinbart und das war gut so.“
Ich staunte. Urururgroßeltern? Das war ja schon mächtig lange her.
„Jaja“, fuhr die Uroma fort. „Bis dann dieser dumme Streit alles zerstörte. Seither hatte es einen Zaun gegeben.“
„Und dein Baum stand auf der falschen Seite“, ergänzte Papa. „Was für eine traurige Geschichte.“
„Und warum habt ihr gestritten?“, hakte ich nach.
Die Uroma sah uns mit traurigen Augen an. „Das müsst ihr den Friedel fragen.“
„Gerne“, sagte Papa. „Aber wer ist nun der Friedel?“
„Der Friedrich. Wer sonst?“ Uroma Lina deutete auf den alten Nachbarn hinüber, der drüben auf der Terrasse Laub fegte und brummig wie immer dreinblickte.
„Was?“, rief Papa. „Der alte Knotterfritz ist dein Friedel?“
Auch ich musste gegen das Lachen ankämpfen. Den Knotterfritznachbarn konnte ich mir so gar nicht als jungen Mann vorstellen, der noch dazu unserer Uroma Lina einen Baum gepflanzt hatte. Vielleicht, weil er in sie verliebt gewesen war?
Auch die Uroma musste grinsen.
„Wo denkt ihr hin?“, fragte sie. „Der Friedrich war nicht immer ein Meckerkopf. Wenn ich ihn sehe – oder schimpfen höre – denke ich an den alten Friedel von früher zurück. Der, der mir einen Ahorn pflanzte. Und dann freue ich mich.“ Sie machte eine Pause, grinste noch mehr, und fuhr fort: „Und weil ich oft und ganz besonders im Winter an die früheren Zeiten denke, linse ich gerne durch die kahle Baumkrone zu Friedrich hinüber. Vielleicht, ja, vielleicht winkt er mir ja doch eines Tages wieder zu?“
Da sagten wir nichts mehr, nur insgeheim begann ich alle Daumen zu drücken und zu hoffen, dass es dem Friedrich, der mal Friedel hieß und der heute ein alter Meckerkerl war, doch einmal einfiel, über den Gartenzaun hinauf zu Oma Linas Fenster zu gucken und ihr vielleicht zuzuwinken. Oder wenigstens ein kleines bisschen zu lächeln.

© Elke Bräunling


Der alte Ahorn vor dem Haus, Bildquelle ©  lilly2025/pixabay

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